37544348 Agatha Christie Mord Im Orient Express

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    AGATHA CHRISTIE

    Mord imOrient-Express

    Roman

    Aus dem Englischenvon Otto Bayer

    Hachette Collections

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    Die Originalausgabe erschien unter dem TitelMURDER ON THE ORIENT EXPRESS

    Fr M.E.L.M. Arpachiya, 1933

    1934 Agatha Christie Limited,a Chorion Company.All rights reserved.

    Mord im Orientexpress1999 Scherz Verlag, Bern, Mnchen, Wien

    fr die Neuausgabe in der bersetzung von Otto Bayer.

    Copyright 2008 Hachette Collections fr die vorliegendeAusgabe.

    Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen,fotomechanische Wiedergabe, Tontrger jeder Art und aus-

    zugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

    Satz und Gestaltung: Redaktionsbro Franke & Buhk, Hamburg

    Druck: GGP Media GmbH, Pneck

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    Erstes Kapitel

    Ein bedeutender Fahrgast

    im Taurus-Express

    s war ein kalter Wintermorgen in Syrien.Frh um fnf Uhr wartete auf dem Bahnhof von Aleppo der Zug, der in den Kursb-

    chern grospurig als Taurus-Express bezeichnetwird. Er bestand aus einem Kchen- und Speisewa-gen, einem Schlafwagen und zwei gewhnlichen Rei-sewagen.

    EVor dem Trittbrett zum Schlafwagen unterhielt sich

    ein junger franzsischer Leutnant in prchtiger Uni-

    form mit einem dnnen kleinen Mann, der sich bisber die Ohren eingemummt hatte, so dass man vonihm nur noch die rote Nasenspitze und die beidenEnden eines aufwrts gezwirbelten Schnurrbarts sah.

    Es war bitterkalt, und niemand war um die Aufgabezu beneiden, einen berhmten Fremdling am Bahn-

    hof zu verabschieden, aber Lieutenant Dubosc stelltesich ihr wie ein Mann. Von seinen Lippen flossenelegante Stze in geschliffenem Franzsisch. Aberman glaube nicht, dass er gewusst habe, worum eshier eigentlich ging. Natrlich waren Gerchte inUmlauf gewesen, wie es sie in solchen Fllen immer

    gibt. Der General sein General war zusehends

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    misslauniger geworden. Und dann war dieser Belgiergekommen offenbar aus dem fernen England an-gereist. Eine ganze Woche lang hatte eine merkwr-dig gespannte Atmosphre geherrscht. Und dannhatten sich gewisse Dinge ereignet. Ein hoch deko-rierter Offizier hatte Selbstmord begangen, ein ande-rer seinen Abschied genommen aus bekmmertenMienen war der Kummer gewichen, bestimmte mili-trische Vorsichtsmanahmen waren gelockert wor-den. Und Lieutenant Duboscs hchsteigener Generalhatte pltzlich zehn Jahre jnger ausgesehen.

    Dubosc hatte Teile eines Gesprchs zwischen ihmund dem Fremden mitgehrt. Sie haben uns geret-tet, mon cher, hatte der General mit bewegter Stimmegesagt, und sein prchtiger weier Schnurrbart hattebeim Reden gezittert. Sie haben die Ehre der fran-zsischen Streitkrfte gerettet und ein groes Blut- vergieen abgewendet. Wie kann ich Ihnen dafrdanken, dass Sie meiner Bitte nachgekommen sind?Dass Sie diesen weiten Weg gemacht

    Worauf der Fremde (ein gewisser Monsieur Hercu-le Poirot) eine geziemende Antwort gab, in der unteranderem der Satz fiel: Aber sollte ich denn verges-sen haben, dass Sie mir einmal das Leben gerettethaben? Worauf der General wiederum etwas Ge-ziemendes erwiderte und jeden Verdienst an dieser

    lange zurckliegenden Geflligkeit in Abrede stellte.Und so hatten sie unter Austausch weiterer Artigkei-ten, in denen Wrter wie Frankreich, Belgien, Ruhmund Ehre vorkamen, einander herzlich umarmt, unddas Gesprch war zu Ende gewesen.

    Lieutenant Dubosc hatte noch immer keine Ah-

    nung, worum es bei dem allen gegangen war, doch

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    ihm war nun die Aufgabe bertragen worden, Mon-sieur Poirot an den Taurus-Express zu bringen, unddiese Aufgabe erledigte er mit all dem Eifer undPflichtbewusstsein, das man von einem jungen Offi-zier am Beginn einer verheiungsvollen Karrierewohl erwarten durfte.

    Heute ist Sonntag, sagte Lieutenant Dubosc.Morgen Abend sind Sie in Istanbul.

    Er sagte diesen Satz nicht zum ersten Mal. Bahn-steiggesprche vor Abfahrt eines Zuges sind frWiederholungen anfllig.

    So ist es, besttigte Monsieur Poirot.

    Und Sie gedenken dort ein paar Tage zu verbrin-gen, nehme ich an?

    Mais oui. Istanbul, in dieser Stadt war ich noch nie.Es wre doch schade, da nur durchzureisen comme a Er schnippte beredt mit den Fingern. Michdrngt nichts ich werde mich ein paar Tage alsTourist dort umsehen.

    Die Hagia Sophia sehr schn, sagte LieutenantDubosc, der sie noch nie gesehen hatte.

    Ein eisiger Wind pfiff ber den Bahnsteig. BeideMnner erschauerten. Lieutenant Dubosc gelang da-bei ein verstohlener Blick auf seine Uhr. Fnf vorfnf nur noch fnf Minuten!

    Da er argwhnte, der andere habe seinen verstoh-lenen Blick auf die Uhr bemerkt, strzte er sichsogleich wieder ins Gesprch.

    Um diese Jahreszeit verreisen nicht viele Leute,sagte er und sah zu den Schlafwagenfenstern berihnen auf.

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    So ist es, besttigte Monsieur Poirot.

    Hoffentlich werden Sie im Taurus-Gebirge nicht

    eingeschneit!Kommt das vor?

    Ja, es ist schon vorgekommen. Dieses Jahr aller-dings noch nicht.

    Dann wollen wir auf das Beste hoffen, meinteMonsieur Poirot. Die Wettermeldungen aus Europa

    sind schlecht.Sehr schlecht. Viel Schnee auf dem Balkan.

    Auch in Deutschland, habe ich gehrt.

    Eh bien, sagte Lieutenant Dubosc rasch, als dasGesprch erneut zu stocken drohte. Morgen Abend

    um neunzehn Uhr vierzig sind Sie jedenfalls in Kon-stantinopel.

    Ja, sagte Monsieur Poirot.

    Die Hagia Sophia , fuhr er verzweifelt fort, ichhabe gehrt, sie soll sehr schn sein.

    Prachtvoll, soviel ich wei.

    ber ihren Kpfen wurde der Vorhang an einemder Schlafwagenfenster zur Seite geschoben, und einejunge Frau schaute heraus.

    Mary Debenham war kaum zum Schlafen gekom-men, seit sie letzten Donnerstag von Bagdad abge-

    fahren war. Weder auf der Fahrt nach Kirkuk nochim Rasthaus Mosulnoch in der letzten Nacht im Zughatte sie richtigen Schlaf gefunden. Jetzt war sie esleid, wach in ihrem berheizten Abteil zu liegen, weshalb sie aufgestanden war, um aus dem Fensterzu schauen.

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    Das musste Aleppo sein. Natrlich gab es hiernichts zu sehen. Nur einen langen, schlecht beleuch-teten Bahnsteig, auf dem irgendwo laut auf Arabischgestritten wurde. Unter ihrem Fenster standen zweiMnner und unterhielten sich auf Franzsisch. Dereine war ein franzsischer Leutnant, der andere einkleiner Mann mit gewaltigem Schnurrbart. Mary De-benham lchelte matt. Noch nie hatte sie eine derart vermummte Gestalt gesehen. Es musste sehr kaltsein da drauen. Deswegen heizten sie ja den Zug sogrsslich. Sie versuchte das Fenster hinunterzuschie-ben, aber es ging nicht.

    Gerade war der Schlafwagenschaffner zu den bei-den Mnnern getreten. Der Zug werde gleich abfah-ren, sagte er. Monsieur solle lieber einsteigen. Derkleine Mann nahm seinen Hut ab. Was da fr einEierkopf zum Vorschein kam! Obwohl Mary De-benham ganz andere Sorgen hatte, musste sie l-cheln. Wie albern der kleine Kerl doch aussah! Einerdieser kleinen Mnner, die man nie richtig ernstnehmen konnte.

    Lieutenant Dubosc hielt seine Abschiedsrede, dieer sich schon vorher zurechtgelegt und bis zur letz-ten Minute aufgespart hatte. Es war eine schne, ge-schliffene Rede.

    Da konnte Monsieur Poirot natrlich nichts schul-

    dig bleiben.En voiture, Monsieur, rief der Schlafwagenschaff-

    ner.

    Mit allen Anzeichen grten Widerstrebens stiegMonsieur Poirot in den Zug, der Schlafwagenschaff-ner hinterdrein. Monsieur Poirot winkte. Lieutenant

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    Dubosc salutierte. Und mit einem schauerlichenRuck setzte der Zug sich langsam in Bewegung.

    Enfin, murmelte Monsieur Hercule Poirot.Brrr, machte Lieutenant Dubosc, der jetzt erstmerkte, wie kalt ihm war.

    Voil, Monsieur. Der Schaffner wies Poirot mittheatralischer Gebrde auf die ganze Schnheit sei-nes Schlafabteils und das ordentlich verstaute Ge-

    pck hin. Monsieurs kleiner Koffer, er ist hier.Seine ausgestreckte Hand sprach Bnde, und Her-

    cule Poirot drckte einen zusammengefalteten Geld-schein hinein.

    Merci, Monsieur. Jetzt wurde der Schaffner ganzdienstlich. Monsieurs Fahrkarten habe ich schon.Wenn es recht ist, nehme ich nun auch noch Monsi-eurs Pass an mich. Monsieur werden die Reise inIstanbul unterbrechen, soviel ich wei?

    Monsieur Poirot bejahte.

    Es sind wohl nicht viele Leute im Zug?, fragte er.

    Nein, Monsieur. Ich habe nur noch zwei weitereFahrgste. Einen englischen Oberst aus Indien undeine junge Englnderin aus Bagdad. Haben Monsieurnoch einen Wunsch?

    Monsieur bat um ein Flschchen Perrier.

    Fnf Uhr frh ist eine unangenehme Zeit zum Ver-

    reisen. Es waren noch zwei Stunden bis zur Morgen-dmmerung. Im Bewusstsein seines zu kurz gekom-menen Nachtschlafs sowie einer erfolgreich abge-schlossenen, sehr heiklen Mission kuschelte Poirotsich in eine Ecke und schlief ein.

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    Als er aufwachte, war es schon halb zehn, und daihm nach einer heien Tasse Kaffee war, begab ersich in den Speisewagen.

    Dort sa zurzeit nur noch eine weitere Person, of-fenbar die Englnderin, die der Schaffner erwhnthatte. Sie war gro, schlank und dunkelhaarig viel-leicht achtundzwanzig Jahre alt. Die khle Selbstsi-cherheit, mit der sie ihr Frhstck verzehrte und

    beim Kellner einen Kaffee nachbestellte, verriet Weltgewandtheit und Reiseerfahrung. Sie trug eindunkles Reisekostm aus einem dnnen Stoff, derfr die berheizte Atmosphre in diesem Zug geraderichtig war.

    Da Monsieur Hercule Poirot nichts Besseres zu tun

    hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, sie zu beobach-ten, ohne es sich anmerken zu lassen.

    Nach seinem Eindruck gehrte sie zu jener Sortejunger Frauen, die sich berall, wohin sie kamen, mitder grten Selbstverstndlichkeit bewegten. Siewirkte ausgeglichen und tchtig. Ihm gefiel die stren-

    ge Regelmigkeit ihrer Zge, die zarte Blsse ihrerHaut. Ihm gefielen auch die dunkelbraune, sanft ge-wellte Frisur und der khle, unpersnliche Blick ihrergrauen Augen. Fr seinen Geschmack war sie freine jolie femme,wie er das nannte, nur ein ganz kleinwenig zu selbstsicher.

    Kurz darauf kam noch jemand in den Speisewagen,diesmal ein hoch gewachsener Mann zwischen vier-zig und fnfzig Jahren, hager, braungebrannt und anden Schlfen leicht angegraut.

    Der Oberst aus Indien, sagte sich Poirot.

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    Der Neuankmmling verneigte sich kurz vor derDame.

    Guten Morgen, Miss Debenham.Guten Morgen, Colonel Arbuthnot.

    Der Oberst fasste nach dem Stuhl auf der anderenTischseite. Sie gestatten?

    Selbstverstndlich. Bitte, nehmen Sie Platz.

    Aber Sie wissen, beim Frhstck sind die Leutenicht immer sehr gesprchig.

    Das hoffe ich. Aber ich beie nicht.

    Der Oberst setzte sich.

    Boy!, rief er in gebieterischem Ton.

    Er bestellte Eier und Kaffee.

    Sein Blick streifte ganz kurz Hercule Poirot, wan-derte aber uninteressiert weiter. Poirot, der die engli-sche Seele verstand, wusste genau, dass er bei sichgesagt hatte: Blo wieder so ein komischer Ausln-der.

    Getreu ihrer Nationalitt waren die beiden Engln-der beim Frhstck alles andere als gesprchig. Sie wechselten nur die eine oder andere kurze Bemer-kung, und schon wenig spter erhob sich die Dameund kehrte zu ihrem Abteil zurck.

    Beim Mittagessen saen die beiden wieder am sel-

    ben Tisch, und wieder schenkten sie dem Fremdennicht die mindeste Beachtung. Ihre Unterhaltung warangeregter als beim Frhstck. Colonel Arbuthnoterzhlte vom Pandschab und stellte der jungen Dameein paar Fragen nach Bagdad, wo sie, wie sich her-ausstellte, als Gouvernante gearbeitet hatte. Im weite-

    ren Verlauf des Gesprchs entdeckten sie ein paar

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    gemeinsame Bekannte, worauf sie gleich freundlicherund lockerer wurden. Sie sprachen ber den gutenalten Tommy Dingsda oder den lieben Jerry Sound-so. Der Oberst erkundigte sich, ob Miss Debenhambis England durchzufahren oder in Istanbul einenZwischenaufenthalt einzulegen gedenke.

    Nein, ich fahre gleich weiter.

    Ist das nicht ein bisschen schade?

    Ich bin vor zwei Jahren auf dem Hinweg dieselbeStrecke gefahren, und da habe ich mich drei Tage inIstanbul aufgehalten.

    Aha. Aber dann darf ich sagen, dass ich sehr er-freut bin. Ich fahre nmlich auch durch.

    Er machte bei diesen Worten eine linkische kleineVerbeugung und wurde sogar ein bisschen rot.

    Er ist empfnglich, unser Oberst, dachte HerculePoirot amsiert. Eine Eisenbahnfahrt scheint dochebenso gefhrlich zu sein wie eine Schiffsreise.

    Miss Debenham sagte gelassen, das sei ja nett. Sie

    gab sich nicht sehr entgegenkommend.Hercule Poirot beobachtete, dass der Oberst sie zuihrem Abteil begleitete. Spter fuhren sie durch dieherrliche Landschaft des Taurus-Gebirges. Whrendsie, nebeneinander auf dem Gang stehend, zum Kili-kischen Tor hinunterblickten, entrang sich der Dame

    pltzlich ein Seufzer. Poirot, der nicht weit von ih-nen entfernt stand, hrte sie leise sagen:

    Das ist so schn! Ich wnschte mir ich wnschte

    Was?

    Ich wnschte, ich knnte es genieen.

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    te. Er traf dazu gewissenhafte Vorbereitungen, zogmehrere Mntel und Schals bereinander an undhllte seine schmucken Stiefel in berschuhe. Sogerstet, stieg er vorsichtig auf den Bahnsteig hinun-ter und begann ihn abzuschreiten. Er ging ganz nachvorn, noch an der Lokomotive vorbei.

    Erst die Stimmen machten ihn auf die beiden un-deutlichen Gestalten aufmerksam, die im Schatten

    eines Gepckwagens standen. Arbuthnot sprach so-eben.

    Mary

    Die Frau unterbrach ihn.

    Nicht jetzt. Nicht jetzt. Erst wenn alles vorbei ist.Wenn wir es hinter uns haben dann

    Monsieur Poirot wandte sich diskret ab. Er machtesich seine Gedanken.

    Er hatte Mary Debenhams sonst so khle, selbstsi-chere Stimme kaum wiedererkannt

    Sonderbar, sagte er bei sich.

    Am nchsten Tag fragte er sich, ob die beiden sich vielleicht gestritten hatten. Sie sprachen kaum mit-einander. Die Frau wirkte nervs. Sie hatte dunkleRinge unter den Augen.

    Am Nachmittag gegen halb drei hielt der Zugpltzlich an. Leute steckten die Kpfe aus den Fen-

    stern. Neben dem Gleis stand ein Grppchen vonMnnern, die auf irgendetwas unter dem Speisewa-gen zeigten.

    Poirot lehnte sich hinaus und sprach den Schlafwa-genschaffner an, der gerade vorbeirannte. Der Mannantwortete, und als Poirot den Kopf wieder zurck-

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    zog und sich umdrehte, stie er fast mit Mary De-benham zusammen, die unmittelbar hinter ihmstand.

    Was ist los?, fragte sie ein wenig atemlos aufFranzsisch. Warum stehen wir hier?

    Nichts weiter, Mademoiselle. Unter dem Speise- wagen hat irgendetwas Feuer gefangen. NichtsSchlimmes. Der Brand ist schon gelscht. Jetzt wird

    noch der Schaden repariert. Es besteht keine Gefahr,das versichere ich Ihnen.

    Sie winkte ungehalten ab, als wre der Gedanke anGefahr fr sie etwas vllig Nebenschliches.

    Ja, schon, das ist mir klar. Aber die Zeit!

    Zeit?

    Ja. Wir bekommen Versptung.

    Mglich ja, pflichtete Poirot ihr bei.

    Aber wir knnen uns keine Versptung leisten!Der Zug kommt um sechs Uhr fnfundfnfzig an,und dann mssen wir ber den Bosporus und auf der

    anderen Seite um neun Uhr den Simplon-Orient-Express erreichen. Eine Versptung von ein, zweiStunden, und wir verpassen den Anschluss.

    Ja, das knnte passieren, rumte er ein.

    Er sah sie neugierig an. Die Hand, die den Fenster-griff hielt, war nicht ganz ruhig, und auch ihre Lip-

    pen zitterten.Ist es Ihnen sehr wichtig, Mademoiselle?, fragte

    er.

    Ja. O ja. Ich mussdiesen Zug erreichen.

    Sie wandte sich von ihm ab und ging zu Colonel

    Arbuthnot, der weiter hinten auf dem Gang stand.

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    Ihre Sorge erwies sich jedoch als unbegrndet.Nach zehn Minuten fuhr der Zug wieder an. Er trafmit nur fnf Minuten Versptung in Haydapassarein, nachdem er unterwegs etwas Zeit aufgeholt hat-te.

    Der Bosporus war rau, und Monsieur Poirot ge-noss die berfahrt nicht. Auf dem Schiff wurde ervon seinen Reisegefhrten getrennt und sah sie nicht

    wieder.Sowie sie an der Galata-Brcke angelegt hatten,fuhr er geradewegs zum Hotel Tokatlia.

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    Zweites Kapitel

    Hotel Tokatlia

    m Hotel Tokatlia lie Hercule Poirot sich einZimmer mit Bad geben, dann ging er zum Por-tier und fragte, ob Post fr ihn da sei.

    Drei Briefe und ein Telegramm warteten auf ihn.

    Beim Anblick des Telegramms zog er die Augen-brauen ein wenig hoch. Damit hatte er nicht gerech-net.

    IEr ffnete es auf seine gewohnt ordentliche, uneili-

    ge Art. In deutlichen Grobuchstaben stand darauf:

    Ihre Voraussage im Fall Kassner unerwartet einge-

    troffen. Bitte sofort zurckkommen.Voil ce qui est embtant, brummelte Poirot verr-

    gert. Er sah zur Uhr hinauf.

    Ich muss noch heute Abend weiter, sagte er zumPortier. Wann fhrt der Orientexpress ab?

    Um neun Uhr, Monsieur.Knnen Sie mir einen Schlafwagenplatz besor-gen?

    Gewiss, Monsieur. Um diese Jahreszeit gibt es dakeine Schwierigkeiten. Die Zge sind fast leer. Ersteoder zweite Klasse?

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    Ah, und nach Hause geht es wieder wann?

    Heute Abend.

    Ausgezeichnet! Ich nmlich auch. Das heit, ichfahre bis Lausanne mit, wo ich zu tun habe. Sienehmen den Simplon-Orient, nehme ich an?

    Ja. Ich habe schon darum gebeten, mir einenSchlafwagenplatz zu besorgen. Eigentlich hatte ich jaein paar Tage hier bleiben wollen, aber nun habe ich

    gerade ein Telegramm erhalten, das mich in einerwichtigen Angelegenheit nach England zurckruft.

    Ach ja, seufzte Monsieur Bouc. Les affaires lesaffaires! Aber Sie sind ja inzwischen ein ganz groerMann, mon vieux.

    Ich hatte vielleicht den einen oder anderen kleinenErfolg zu verzeichnen. Hercule Poirot versuchtebescheiden dreinzublicken, was ihm grndlich miss-lang.

    Monsieur Bouc lachte.

    Wir sehen uns spter, sagte er.

    Hercule Poirot widmete sich der schwierigen Auf-gabe, seinen Schnurrbart aus der Suppe zu halten.

    Nachdem das geschafft war, blickte er sich, wh-rend er auf den nchsten Gang wartete, im Restau-rant um. Es war nur ein rundes halbes Dutzend Leu-te da, und von diesem halben Dutzend interessierte

    sich Hercule Poirot nur fr zwei.Diese zwei saen an einem nicht weit entfernten

    Tisch. Der Jngere war ein durchaus liebenswert aus-sehender Mann um die dreiig, eindeutig Amerika-ner. Aber nicht ihm galt die Aufmerksamkeit deskleinen Detektivs, sondern seinem Gefhrten.

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    Dieser Mann mochte zwischen sechzig und siebzigsein. Von weitem hatte er das freundliche Gesichteines Philanthropen. Sein schtteres Haar, die ge-wlbte Stirn, der lchelnde Mund, der ein sehr wei-es falsches Gebiss entblte, das alles deutete aufGutmtigkeit hin. Nur die Augen straften diesenEindruck Lgen. Sie waren klein, saen tief in denHhlen und wirkten verschlagen. Nicht genug damit:Als der Mann einmal etwas zu seinem Begleiter sagteund sich dabei im Raum umsah, blieb sein Blick ganzkurz an Poirot hngen, und nur fr die Dauer diesereinen Sekunde blitzte eine sonderbare Bsartigkeitdarin auf, etwas unnatrlich Gespanntes.

    Dann erhob er sich.

    Bezahlen Sie die Rechnung, Hector, sagte er.Seine Stimme klang ein wenig heiser. Und sie hatte

    einen ungewhnlich sanften, gefhrlichen Unterton.

    Als Poirot sich mit seinem Freund wieder in derHotelhalle traf, waren die beiden Mnner drauf unddran das Hotel zu verlassen. Ihr Gepck wurde he-

    runtergebracht. Der Jngere berwachte diesen Vor-gang. Gleich darauf ffnete er die Glastr und sagte:Wir wren so weit, Mr. Ratchett.

    Der Altere grunzte etwas und ging hinaus.

    Eh bien, sagte Poirot. Was halten Sie von diesenbeiden?

    Amerikaner, sagte Monsieur Bouc.

    Auf jeden Fall sind es Amerikaner. Aber ich mein-te, was haben Sie fr einen Eindruck von ihnen?

    Der junge Mann erschien mir recht angenehm.

    Und der andere?

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    Um ehrlich zu sein, mein Freund, er gefiel mirnicht. Er wirkte auf mich irgendwie unangenehm.Und auf Sie?

    Hercule Poirot lie sich mit der Antwort etwasZeit.

    Als er im Restaurant an mir vorbeiging, sagte erendlich, hatte ich ein eigenartiges Gefhl. Als wreein wildes Tier ein grausames wildes Tier, wenn Sie

    verstehen an mir vorbeigegangen.Dabei macht er doch einen durch und durch ge-

    diegenen Eindruck.

    Prcisment!Der Krper der Kfig alles gedie-gen doch durch die Gitterstbe blickt das wildeTier heraus.

    Sie haben eine lebhafte Phantasie, mon vieux,meinte Monsieur Bouc.

    Mag sein. Aber ich wurde das Gefhl nicht los,dass mir das Bse begegnet war.

    Dieser gediegene amerikanische Gentleman?

    Dieser gediegene amerikanische Gentleman.Hm, meinte Monsieur Bouc vergngt. Das ist ja

    gut mglich. Es gibt so viel Bses auf der Welt.

    In diesem Moment ging die Tr auf, und der Por-tier kam zu ihnen. Er trug eine kummervolle Mienezur Schau.

    Es ist unglaublich, Monsieur, sagte er zu Poirot.Aber in diesem Zug ist kein einziges Schlafwagenab-teil erster Klasse mehr zu haben.

    Comment?, rief Monsieur Bouc. Um diese Jahres-zeit? Ah, da ist bestimmt so eine Journalistengruppe

    unterwegs oder Politiker ?

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    Ich wei es nicht, Monsieur, wandte der Portiersich nun respektvoll an ihn. Aber so stehen die Din-ge.

    Hm, hm. Monsieur Bouc wandte sich an Poirot.Aber seien Sie unbesorgt, mein Freund. Wir werdenschon etwas organisieren. Es ist immer ein Abteil frei die Nummer sechzehn sie ist nie belegt. Dafrsorgt der Schaffner! Er lchelte, dann sah er zur Uhr

    hinauf. Kommen Sie, sagte er. Zeit zum Auf-bruch.

    Am Bahnhof wurde Monsieur Bouc von einembereifrigen Schlafwagenschaffner in brauner Uni-form respektvoll begrt.

    Guten Abend, Monsieur. Sie haben Abteil Num-

    mer eins.Er rief die Gepcktrger herbei, und sie rollten ihre

    Fracht zur Mitte des Wagens, auf dem ein Blech-schild die Reiseroute angab:

    Istanbul Triest Calais

    Ich hre, wir sind voll besetzt?

    Es ist nicht zu glauben, Monsieur. Alle Welt willheute Nacht verreisen.

    Trotzdem mssen Sie noch einen Platz fr diesen

    Herrn finden. Er ist ein Freund von mir. Er kann dieNummer sechzehn haben.

    Nummer sechzehn ist leider belegt, Monsieur.

    Wie bitte? Nummer sechzehn?

    Die beiden wechselten einen verstndnisinnigen

    Blick, dann lchelte der Schaffner. Er war ein Mann

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    in mittleren Jahren, hoch gewachsen und von blei-chem Teint.

    Aber ja, Monsieur. Wie gesagt, wir sind voll belegt voll berall.

    Aber wie kommt denn das?, fragte MonsieurBouc gereizt. Findet irgendwo eine Konferenz statt?Oder ist das eine Reisegesellschaft?

    Nein, Monsieur. Reiner Zufall. Es trifft sich ein-

    fach so, dass heute vielen Leuten der Sinn nach Ver-reisen steht.

    Monsieur Bouc schnalzte verdrossen mit der Zun-ge.

    In Belgrad, sagte er dann, wird der Kurswagenaus Athen angehngt. Auch der Wagen Bukarest-Paris aber wir sind erst morgen Abend in Belgrad.Das Problem ist die heutige Nacht. Es ist auch keinSchlafplatz zweiter Klasse mehr frei?

    Ein Bett zweiter Klasse istnoch frei, Monsieur.

    Also, dann

    Aber das ist ein Damenabteil. Und es befindet sichschon eine Dame darin eine deutsche Zofe.

    L, l,wie unangenehm, sagte Monsieur Bouc.

    Grmen Sie sich nicht, mein Freund, sagte Poirot.Dann muss ich eben in einem normalen Abteil rei-sen.

    Kommt berhaupt nicht in Frage. MonsieurBouc wandte sich wieder an den Schaffner. Sinddenn alle Fahrgste da?

    Richtig, sagte der Mann, einer ist noch nicht da.

    Er sagte es langsam und zgernd.

    Was ist denn?

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    Bett Nummer sieben in der zweiten Klasse. DerHerr ist noch nicht da, und es ist vier Minuten vorneun.

    Wer ist dieser Herr?

    Ein Englnder. Der Schaffner sah auf seiner Listenach. Mr. Harris.

    Ein gutes Omen, dieser Name, sagte Poirot. Oja, ich habe meinen Dickens gelesen. Mr. Harris wird

    nicht kommen.Bringen Sie Monsieur in Nummer sieben unter,

    befahl Monsieur Bouc. Sollte dieser Mr. Harris nochkommen, dann sagen wir ihm, er ist zu spt wirknnen die Liegepltze nicht so lange freihalten wirwerden die Sache auf die eine oder andere Weise re-

    geln. Was kmmert mich ein Mr. Harris?Wie Monsieur befehlen, sagte der Schaffner.

    Er erklrte dem Gepcktrger, wohin er Poirots Sa-chen zu bringen habe.

    Dann gab er das Trittbrett frei, damit Poirot

    einsteigen konnte. Tout fait au bout, Monsieur, riefer. Ganz hinten, das vorletzte Abteil.

    Poirot begab sich durch den Gang, wobei er ziem-lich langsam vorankam, da die meisten Reisendenvor ihren Abteilen standen. Sein Pardon, pardoner-klang mit der Regelmigkeit eines Uhrwerks.

    Schlielich kam er zu dem genannten Abteil. Drin-nen griff der junge Amerikaner aus dem Hotel Tokat-liagerade nach einem Koffer ber sich.

    Bei Poirots Eintreten runzelte er die Stirn.

    Entschuldigen Sie, sagte er, aber ich glaube, Siehaben sich im Abteil geirrt. Dann wiederholte er

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    mhsam auf Franzsisch: Je crois que vous avez un er-reur.

    Sind Sie Mr. Harris?, fragte Poirot auf Englischzurck.

    Nein, mein Name ist MacQueen. Ich

    Im selben Moment sprach jedoch der Schlafwagen-schaffner ber Poirots Schulter hinweg bedauerndund ein wenig atemlos:

    Es gibt keine anderen Schlafpltze mehr im Zug,Monsieur. Dieser Herr muss zu Ihnen hinein.

    Mit diesen Worten ffnete er das Korridorfensterund begann Poirots Gepck hereinzuwuchten.

    Poirot nahm das Bedauernde in seinem Ton mit ei-

    ner gewissen Belustigung zur Kenntnis. Zweifellos war dem Mann ein gutes Trinkgeld in Aussicht ge-stellt worden, wenn er es schaffte, dieses Abteil frden anderen zur alleinigen Verfgung zu halten. Aber auch das frstlichste Trinkgeld verliert seine Wirkung, wenn ein Direktor der InternationalenSchlafwagengesellschaft im Zug sitzt und Befehleerteilt.

    Der Schlafwagenschaffner kam aus dem Abteil,nachdem er die Koffer ins Gepcknetz befrderthatte.

    Voil, Monsieur, sagte er. Alles fertig. Sie haben

    das obere Bett, Nummer sieben. In einer Minute fah-ren wir ab.

    Er eilte ber den Gang davon. Poirot betrat wiederdas Schlafwagenabteil.

    Ein selten zu beobachtendes Phnomen, meinteer vergngt. Dass ein Schlafwagenschaffner eigen-

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    hndig das Gepck verstaut. Das hat es ja noch niegegeben!

    Sein Mitreisender lchelte. Offenbar hatte er seinenrger berwunden wahrscheinlich eingesehen, dasses keinen Sinn hatte, die Sache anders als mit philo-sophischer Gelassenheit hinzunehmen.

    Der Zug ist ungewhnlich voll, bemerkte er.

    Ein Pfiff ertnte, dann gab die Lokomotive einen

    lang gezogenen, wehklagenden Schrei von sich. BeideMnner traten auf den Gang hinaus.

    En voiture!, rief drauen eine Stimme.

    Jetzt fahren wir, sagte MacQueen.

    Aber sie fuhren noch nicht. Wieder ertnte ein

    Pfiff.Hren Sie, sagte der junge Mann pltzlich, wennSie lieber das untere Bett htten bequemer und so also, mir soll es recht sein.

    Nicht doch, protestierte Poirot. Ich wrde esIhnen nie zumuten

    Es macht mir wirklich nichts Zu liebenswrdig

    Hfliche Beteuerungen auf beiden Seiten.

    Es ist ja nur fr eine Nacht, erklrte Poirot. InBelgrad

    Ah, Sie steigen in Belgrad wieder aus Das nicht. Aber sehen Sie

    Pltzlich gab es einen Ruck. Beide Mnner drehtensich rasch zum Fenster um und sahen den langen,erhellten Bahnsteig langsam vorbeiziehen.

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    Der Orientexpress hatte seine Dreitagereise querdurch Europa angetreten.

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    Drittes Kapitel

    Poirot lehnt einen Auftrag ab

    onsieur Hercule Poirot kam am nchstenMittag etwas versptet in den Speisewagen.Er war frh aufgestanden, hatte fast allein

    gefrhstckt und dann den Vormittag damit ver-bracht, die Notizen zu dem Fall durchzulesen, derihn nach London zurckrief. Von seinem Abteilge-fhrten hatte er noch wenig zu sehen bekommen.

    MMonsieur Bouc, der bereits Platz genommen hatte,

    winkte seinem Freund zur Begrung zu und botihm den freien Platz ihm gegenber an. Poirot setzte

    sich und sah sich bald in der privilegierten Situation,an einem Tisch zu sitzen, der nicht nur immer zuerstbedient wurde, sondern von allem auch die bestenStcke bekam. Zudem war das Essen ungemein gut.

    Erst bei einem delikaten Frischkse gestattete Mon-sieur Bouc es seinen Gedanken, sich von der Nah-

    rungsaufnahme ab- und etwas anderem zuzuwenden.Er hatte jenes Stadium der Mahlzeit erreicht, in demder Mensch philosophisch wird.

    Ach, seufzte er. Htte ich nur Balzacs Feder, wiegern wrde ich diese Szene beschreiben.

    Er zeigte in die Runde.

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    Keine schlechte Idee, sagte Poirot.

    Ah, Sie finden das auch? Das hat noch niemand

    gemacht, glaube ich. Und doch, mein Freund esbietet sich als Romanstoff geradezu an. Um uns her-um sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationali-tten, jeden Alters. Fr drei Tage bilden diese Men-schen, lauter Fremde freinander, eine Gemein-schaft. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie

    knnen sich nicht aus dem Weg gehen. Und nachden drei Tagen trennen sie sich wieder, jeder gehtseine eigenen Wege, und sie werden sich vielleichtnie wieder sehen.

    Dennoch, meinte Poirot, nehmen wir einmal an,ein Unglck

    Nicht doch, mein Lieber Aus Ihrer Sicht wre das gewiss bedauerlich, zuge-

    geben. Nehmen wir es trotzdem einmal an. Dann wren alle diese Menschen fr immer miteinanderverbunden durch den Tod.

    Trinken wir noch ein Glas Wein, sagte Monsieur

    Bouc und schenkte schnell nach. Sie haben eineschlimme Phantasie, mon cher. Vielleicht kommt dasvon der Verdauung.

    Es ist wahr, rumte Poirot ein, das Essen in Sy-rien war meinem Magen nicht so recht zutrglich.

    Er trank einen Schluck Wein. Dann lehnte er sichzurck und blickte sich nachdenklich im Speisewagenum. Dreizehn Leute saen da, und wie MonsieurBouc gesagt hatte, waren es Menschen aller Klassenund Nationalitten. Er sah sie sich genauer an.

    Am Tisch gegenber saen drei Mnner. Sie waren

    seiner Einschtzung nach Alleinreisende, vom un-

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    fehlbaren Blick des Speisewagenpersonals als solcheerkannt und an denselben Tisch verwiesen. Ein kor-pulenter, dunkelhutiger Italiener stocherte genss-lich in seinen Zhnen. Ihm gegenber sa ein hage-rer, adretter Englnder mit dem ausdruckslos miss-billigenden Gesicht des geschulten Dieners. Nebendem Englnder sa ein vierschrtiger Amerikaner ineinem schreienden Anzug mglicherweise einHandlungsreisender.

    Man muss da gro, einsteigen, verkndete er so-eben laut und nselnd.

    Der Italiener nahm seinen Zahnstocher aus demMund und gestikulierte ungeniert damit herum.

    Klar, meinte er. Sag ich doch die ganze Zeit.

    Der Englnder blickte aus dem Fenster und hstel-te.

    Poirots Blick wanderte weiter.

    An einem kleinen Tisch sa kerzengerade eine alteDame, wie er sie hsslicher kaum je gesehen hatte. Eswar allerdings eine Hsslichkeit von eigener Wrde,die eher faszinierte als abstie. Die Dame sa sehraufrecht. An ihrem Hals hing ein Collier aus sehrgroen Perlen, die aller Unwahrscheinlichkeit zumTrotz echt waren. Ihre Hnde waren mit Ringen be-deckt. Sie hatte ihre Zobeljacke ber den Schulternzurckgeschlagen. Ein sehr kleines, teures schwarzesHtchen passte ausgesprochen schlecht zu dem gelb-lichen Krtengesicht darunter.

    Soeben sprach sie mit klarer Stimme, die hflich,aber befehlsgewohnt klang, zum Speisewagenkellner:

    Haben Sie die Liebenswrdigkeit, mir eine Flasche

    Mineralwasser und ein groes Glas Orangensaft ins

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    Abteil zu bringen. Und sorgen Sie dafr, dass ichheute zum Abendessen gednstetes Hhnchen ohneBeilagen bekomme und ein Stckchen gekochtenFisch.

    Der Kellner versicherte ihr respektvoll, dass es sogeschehen werde.

    Sie nickte gndig, dann erhob sie sich. Dabei streif-te ihr Blick ganz kurz Poirot, huschte aber mit ari-

    stokratischer Nonchalance sogleich ber ihn hinweg.Das ist die Frstin Dragomiroff, sagte Monsieur

    Bouc leise. Russin. Ihr Gatte hat vor der Revolutionsein ganzes Geld flssig gemacht und im Auslandangelegt. Sie ist steinreich. Eine Kosmopolitin.

    Poirot nickte. Er hatte von der Frstin Dragomi-

    roff schon gehrt.Eine Persnlichkeit, sagte Monsieur Bouc. Hss-

    lich wie die Snde, aber sie versteht Eindruck zu ma-chen. Finden Sie nicht auch?

    Poirot fand das auch.

    An einem der anderen groen Tische sa MaryDebenham mit noch zwei Frauen zusammen. Dieeine, hoch gewachsen und mittleren Alters, trug einekarierte Bluse mit Tweedrock. Ihr volles, abge-stumpftes blondes Haar war unvorteilhaft zu einemgroen Knoten geschlungen; dazu hatte sie eine Bril-

    le auf, und ihr langes Gesicht hatte die Sanftmut undLiebenswrdigkeit eines Schafs. Sie hrte der Drittenzu, einer robusten lteren Frau mit freundlichem Ge-sicht, die einen langen Monolog herunterleierte undscheinbar weder Luft zu holen brauchte noch je einEnde zu finden gedachte.

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    und da sagte meine Tochter: Hr mal, sagtesie, du kannst in diesem Land keine amerikanischenSitten einfhren. Faul zu sein liegt einfach in der Na-tur dieser Menschen, sagte sie. Sie haben es nuneinmal nie eilig. Und trotzdem, Sie wrden staunen,wenn Sie sehen knnten, was unsere Schule dort zuWege bringt. Die haben sehr gute Lehrer. Ich denke,es geht nichts ber Bildung. Wir mssen unsere west-lichen Ideale zur Geltung bringen und den Ostenlehren, sie anzuerkennen. Meine Tochter sagt

    Der Zug fuhr in einen Tunnel ein. Die monotoneStimme wurde kurzerhand ertrnkt.

    Am Tisch daneben, einem kleinen, sa Colonel Ar-buthnot allein. Sein Blick klebte an Mary Deben-

    hams Hinterkopf. Sie saen nicht zusammen. Dabeihtte sich das leicht so einrichten lassen. Warum?

    Vielleicht ziert sich Mary Debenham, dachte Poi-rot. Als Gouvernante wei sie sich vorzusehen. DerSchein ist alles. Eine junge Frau, die sich ihren Le-bensunterhalt verdienen will, muss auf Diskretion

    achten.Sein Blick wanderte weiter zur anderen Seite. Am

    fernen Ende, gleich bei der Wand, sa eine schwarzgekleidete Frau mittleren Alters mit breitem, aus-druckslosem Gesicht. Deutsche oder Skandinavierin,dachte er. Wahrscheinlich die deutsche Zofe.

    Ihr zunchst saen ein Mann und eine Frau, beide weit ber den Tisch gelehnt und in angeregter Un-terhaltung. Der Mann trug einen saloppen englischen Tweedanzug, aber er war kein Englnder. ObwohlPoirot nur seinen Hinterkopf sehen konnte, war des-sen Form ebenso verrterisch wie die Schulterhal-

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    tung. Er war krftig und gut gebaut. Als er pltzlichden Kopf wandte, sah Poirot sein Profil. Ein sehr gutaussehender Mann in den Dreiigern mit groem,blondem Schnurrbart.

    Die Frau ihm gegenber war fast noch ein jungesMdchen vielleicht um die zwanzig. Sie trug eineng anliegendes schwarzes Kostm, eine weie Bluseund ein schickes schwarzes Htchen, das sie nach

    der herrschenden Mode lcherlich schief auf demKopf sitzen hatte. Ihr schnes, fremdlndisches Ge-sicht war schneewei, die groen Augen braun, dieHaare pechschwarz. Sie rauchte eine Zigarette aneiner langen Spitze. Ihre manikrten Fingerngel wa-ren tiefrot. Sie trug einen groen, in Platin gefasstenSmaragd. Ihr Blick war schelmisch, ihre Stimme ko-kett.

    Elle est jolie et chic, sagte Poirot leise. Mann undFrau, ja?

    Monsieur Bouc nickte.

    Ungarische Botschaft, soviel ich wei, sagte er.

    Ein schnes Paar.Sonst saen nur noch zwei Leute beim Mittagessen

    Poirots Abteilgenosse MacQueen und sein Arbeit-geber, Mr. Ratchett. Letzterer sa Poirot zugewandt,und zum zweiten Mal betrachtete der Detektiv diesewenig einnehmenden Zge, die falsche Gutmtigkeit

    der Stirn und die kleinen, grausamen Augen.Zweifellos erkannte Monsieur Bouc den vernder-

    ten Gesichtsausdruck seines Freundes.

    Sehen Sie wieder Ihr wildes Tier?, fragte er.

    Poirot nickte.

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    Als der Kaffee kam, erhob sich Monsieur Bouc. Erhatte vor Poirot mit dem Essen angefangen und warschon seit einiger Zeit damit fertig.

    Ich gehe wieder in mein Abteil, sagte er. Kom-men Sie doch nachher auf ein Schwtzchen zu mir.

    Mit Vergngen.

    Poirot trank seinen Kaffee und bestellte noch einenLikr. Der Kellner ging mit seiner Geldkassette von

    Tisch zu Tisch, um zu kassieren. Die Stimme derlteren Amerikanerin erhob sich schrill und klagend.

    Meine Tochter hat gesagt: Kauf dir ein HeftchenEssensbons, und du hast keinerlei Schwierigkeiten. Aber das ist ja nicht wahr. Immer kommen nochdiese zehn Prozent Trinkgeld dazu, genauso diese

    Flasche Mineralwasser und was fr komischesWasser! Evian oder Vichy hatten die nicht, und dasfinde ich schon komisch.

    Es ist wohl die mssen wie sagt man Wasser von Land servieren, erklrte die Dame mit demSchafsgesicht.

    Also, ich finde es komisch. Sie starrte angewidertauf das Hufchen Wechselgeld, das vor ihr auf demTisch lag. Sehen Sie sich dieses Zeug an, das er mirherausgegeben hat. Dinare oder so. Wertloser Kram,wenn Sie mich fragen. Meine Tochter hat gesagt

    Mary Debenham schob ihren Stuhl zurck, nickteden beiden anderen kurz zu und ging. Colonel Ar-buthnot stand ebenfalls auf und folgte ihr. Die Ame-rikanerin raffte ihr geschmhtes Wechselgeld zu-sammen und schloss sich an, nach ihr ging auch dieDame mit dem Schafsgesicht. Die beiden Ungarn

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    waren schon fort. Im Speisewagen saen jetzt nurnoch Poirot, Ratchett und MacQueen.

    Ratchett sagte etwas zu seinem Begleiter, woraufdieser aufstand und den Speisewagen verlie. Dannerhob auch er sich, aber er folgte MacQueen nichtnach drauen, sondern setzte sich vllig unerwartetPoirot gegenber.

    Knnten Sie mir wohl Feuer geben?, fragte er.

    Seine Stimme klang leise, ein wenig nselnd. MeinName ist Ratchett.

    Poirot deutete eine Verbeugung an. Er griff in dieTasche, nahm eine Schachtel Zndhlzer heraus undreichte sie seinem Gegenber, der sie nahm, aberkein Zndholz anriss.

    Ich glaube, ich habe das Vergngen, mit MonsieurHercule Poirot zu sprechen, sagte er. Richtig?

    Poirot neigte wieder den Kopf. Man hat Sie richtiginformiert, Monsieur.

    Der Detektiv merkte sehr wohl, wie diese sonder-bar verschlagenen Augen ihn von oben bis untenmusterten, bevor der andere wieder sprach.

    In meiner Heimat, sagte er, kommen wir immergleich zur Sache, Mr. Poirot. Ich mchte Sie gern freinen Auftrag engagieren.

    Hercule Poirot zog kaum merklich die Augenbrau-

    en hoch.Meine clientle, Monsieur, ist inzwischen sehr be-

    grenzt. Ich bernehme nur noch ganz wenige Flle.

    Gut, das verstehe ich natrlich. Aber dieser Fallbedeutet Geld, Mr. Poirot. Und mit seiner leisen,beschwrenden Stimme fgte er an: Viel Geld.

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    Hercule Poirot war eine Weile still, dann fragte er:Um was fr ein Anliegen handelt es sich denn,Monsieur h Ratchett?

    Mr. Poirot, ich bin ein reicher Mann sehr reich.In dieser Position hat man Feinde. Ich habe einenFeind.

    Nur einen?

    Was wollen Sie damit sagen?, fragte Ratchett

    scharf zurck.Monsieur, wenn ein Mann in einer Position ist, in

    der man, wie Sie sagen, Feinde hat, dann handelt essich nach meiner Erfahrung meist nicht nur um ei-nen Feind.

    Ratchett schien ob dieser Antwort erleichtert. Ersagte rasch: Gut, da muss ich Ihnen Recht geben.Feind oder Feinde darauf kommt es nicht an. Wor-auf es ankommt, ist meine Sicherheit.

    Sicherheit?

    Mein Leben wurde bedroht, Mr. Poirot. Nun ge-

    hre ich ja eigentlich zu denen, die ganz gut auf sichselbst aufpassen knnen. Er nahm eine kleine Pisto-le aus der Jackentasche und lie sie Poirot eine Se-kunde lang sehen. Dann fuhr er mit grimmiger Mienefort: Ich glaube, einen wie mich berrumpelt mannicht so leicht. Aber bei nherem Hinsehen wrde

    ich mich doch gern doppelt versichern. Ich denke,Sie wren der richtige Mann fr mein Geld, Mr. Poi-rot. Und nicht vergessen vielGeld.

    Poirot betrachtete ihn eine Weile nachdenklich.Seine Miene war vllig ausdruckslos. Der andere ht-te im Leben nicht erraten knnen, was in seinem

    Kopf vorging.

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    Bedaure, Monsieur, sagte er schlielich. Ich kannIhnen nicht dienen.

    Der andere sah ihn listig an.Dann nennen Sie mir Ihre Summe, sagte er.

    Poirot schttelte den Kopf.

    Sie verstehen mich falsch, Monsieur. Ich war inmeinem Beruf sehr erfolgreich. Ich habe genug Geld verdient, um sowohl meine Bedrfnisse als auch

    meine Launen zu befriedigen. Ich bernehme nurnoch Flle, die mich interessieren.

    Sie sind ein harter Brocken, sagte Ratchett.Knnten zwanzigtausend Dollar Sie interessieren?

    Nein.

    Wenn Sie den Preis hochtreiben wollen mehrbekommen Sie nicht. Ich wei, was mir eine Sachewert ist.

    Ich auch Monsieur Ratchett.

    Was gefllt Ihnen an meinem Angebot nicht?

    Poirot erhob sich.

    Wenn Sie mir die Freimtigkeit verzeihen, Monsi-eur Ratchett mir gefllt Ihr Gesicht nicht, antwor-tete er.

    Und damit verlie er den Speisewagen.

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    Viertes Kapitel

    Ein Schrei in der Nacht

    er Orientexpress lief abends um Viertel vorneun in Belgrad ein. Da er erst um Viertelnach neun weiterfahren sollte, stieg Poirot

    kurz aus. Er blieb allerdings nicht lange auf demBahnsteig. Es war bitterkalt, und wenn der Bahnsteigselbst auch berdacht war, drauen schneite es dochsehr stark. Er wollte zu seinem Abteil zurckgehen,als der Schaffner, der sich auf dem Bahnsteig die F-e vertrat und krftig mit den Armen schlug, um sichwarm zu halten, ihn ansprach.

    D

    Ihr Gepck wurde in Abteil Nummer eins ge-bracht, Monsieur, das von Monsieur Bouc.

    Aber wo bleibt dann Monsieur Bouc?

    Er ist in den Kurswagen aus Athen umgezogen,der gerade angehngt wurde.

    Poirot ging seinen Freund aufsuchen. Monsieur

    Bouc wollte von seinen Einwnden nichts wissen.Nicht der Rede wert, nicht der Rede wert. Es ist

    viel praktischer so. Sie fahren durch bis nach Eng-land, da ist es doch besser, Sie bleiben im Kurswagennach Calais. Ich bin hier gut aufgehoben. Schn ru-hig und friedlich. Abgesehen von mir und einem

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    kleinen griechischen Arzt ist dieser Wagen nmlichleer. Ah, was fr eine Nacht, mein Freund! Es sollseit Jahren nicht mehr so geschneit haben. Hoffent-lich werden wir nirgendwo aufgehalten. Allzu glck-lich bin ich ber die Situation nicht, das kann ichIhnen sagen.

    Punkt Viertel nach neun verlie der Zug denBahnhof, und wenig spter stand Poirot auf, wnsch-

    te seinem Freund eine gute Nacht und begab sichber den Gang zurck zu seinem eigenen Wagen, derganz vorn war, gleich hinter dem Speisewagen.

    An diesem zweiten Tag der Reise schienen die er-sten Schranken zu fallen: Colonel Arbuthnot stand vor seiner Abteiltr und unterhielt sich mit Mac-

    Queen.MacQueen unterbrach sich mitten im Satz, als er

    Poirot sah. Er machte ein sehr erstauntes Gesicht.

    Nanu, rief er, ich dachte, Sie htten uns verlas-sen. Sagten Sie nicht, Sie wollten in Belgrad ausstei-gen?

    Da haben Sie mich missverstanden, antwortetePoirot lchelnd. Ich erinnere mich. Der Zug fuhrgerade in Istanbul ab, als wir darauf zu sprechen ka-men.

    Aber Mann, Ihr Gepck es ist fort.

    Es wurde nur in ein anderes Abteil gebracht nichts weiter.

    Ach so.

    MacQueen nahm seine Unterhaltung mit Ar-buthnot wieder auf, und Poirot ging weiter.

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    Zwei Tren vor seinem eigenen Abteil stand die l-tere Amerikanerin, Mrs. Hubbard, und unterhielt sichmit dem Schafsgesicht, einer Schwedin. Mrs. Hub-bard drngte ihr gerade eine Zeitschrift auf.

    Doch, doch, nehmen Sie, sagte sie. Ich habenoch so viel anderen Lesestoff. Mein Gott, ist dieseKlte nicht frchterlich? Sie lchelte Poirot freund-lich zu.

    Sie zu liebenswrdig, sagte die Schwedin.Ach was. Hoffentlich schlafen Sie gut, damit es

    mit Ihrem Kopf morgen frh wieder besser ist.

    Ist nur Klte. Ich mache jetzt Tasse Tee.

    Haben Sie Aspirin bei sich? Ganz bestimmt? Ichhtte nmlich reichlich. Also, dann gute Nacht, mei-ne Liebe.

    Kaum war die andere fort, redete sie gleich weiterzu Poirot.

    Die rmste. Sie ist Schwedin. Wenn ich sie richtigverstanden habe, ist sie so eine Art Missionarin in

    einer Schule. Nette Frau, spricht nur nicht besondersgut Englisch. Sie hat sich ja so fr alles interessiert,was ich ihr ber meine Tochter erzhlt habe.

    Poirot wusste inzwischen alles ber Mrs. Hubbardund ihre Tochter. Und allen im Zug, die Englischverstanden, ging es ebenso. Dass die Tochter und ihr

    Mann Lehrer an einer groen amerikanischen Schulein Smyrna waren; dass Mrs. Hubbard zum ersten Malin den Orient gereist war; und was sie von den Tr-ken und ihrem liederlichen Lebenswandel und demZustand ihrer Straen hielt.

    Die Tr neben Poirots Abteil ging auf, und der

    schmchtige, bleiche Diener kam heraus. Drinnen

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    Sie gingen an ihnen vorbei und weiter zu Mac-Queens Abteil.

    Mrs. Hubbard verabschiedete sich von Poirot.Ich werde wohl gleich zu Bett gehen und noch et-was lesen, sagte sie. Gute Nacht.

    Gute Nacht, Madame.

    Poirot ging weiter zu seinem eigenen Abteil, dasgleich hinter dem von Mr. Ratchett lag. Er zog sich

    aus und legte sich zu Bett, las noch ein halbes Stnd-chen und knipste dann das Licht aus.

    Ein paar Stunden spter schreckte ihn etwas ausdem Schlaf. Er wusste sofort, was ihn geweckt hatte ein lautes chzen, fast ein Schrei, und zwar ganz inder Nhe. Im selben Moment ertnte das laute Pingeiner Klingel.

    Poirot richtete sich auf und knipste das Licht an. Ermerkte, dass der Zug stand vermutlich auf einemBahnhof.

    Es war ein Schrei gewesen, was ihn geweckt hatte.

    Jetzt fiel ihm wieder ein, dass Ratchetts Abteil an dasseine grenzte. Er stieg aus dem Bett und ffnete die Abteiltr, als gerade der Schlafwagenschaffner berden Gang geeilt kam und an Ratchetts Tr klopfte.Poirot hielt seine Tr einen Spaltbreit offen undsphte hinaus. Der Schaffner klopfte ein zweites Mal.

    Wieder ertnte die Klingel, und weiter hinten gingber einer anderen Tr ein Lmpchen an. DerSchaffner warf einen Blick ber die Schulter zurck.

    Im nchsten Moment rief eine Stimme aus demAbteil nebenan: Ce nest rien. Je me suis tromp.

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    Bien, Monsieur. Der Schaffner eilte zurck, um andie andere Tr zu klopfen, ber der das Lmpchenbrannte.

    Poirot legte sich erleichtert wieder zu Bett undknipste das Licht aus. Er sah kurz auf die Uhr. Eswar genau sieben Minuten nach halb eins.

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    Fnftes Kapitel

    Die Tat

    r konnte nicht sofort wieder einschlafen.Zum einen fehlte ihm die Bewegung des Zu-ges. Wenn das da drauen ein Bahnhof war,

    dann war er sonderbar still. Im Gegensatz dazu er-schienen die Gerusche im Zug ungewhnlich laut.Nebenan hrte er Ratchett sich zu schaffen machen ein Klicken, als er das Waschbecken herausklappte,das Rauschen von laufendem Wasser, Geplatsche,dann ein erneutes Klicken, als das Becken wiedereingeklappt wurde. Drauen auf dem Gang schlurf-ten Schritte vorbei, leise, als htte da jemand Pantof-feln an den Fen.

    E

    Hercule Poirot lag wach im Bett und starrte an dieDecke. Warum war es auf diesem Bahnhof so still?Seine Kehle war ganz trocken. Er hatte vergessen,um seine gewohnte Flasche Mineralwasser zu bitten.

    Wieder sah er auf die Uhr. Gerade Viertel nach einsvorbei. Er beschloss, nach dem Schaffner zu klingelnund sich ein Mineralwasser bringen zu lassen. Schonging sein Finger zum Klingelknopf, doch dann z-gerte er, als er ein Pinghrte. Der gute Mann konntenicht allen Fahrgsten gleichzeitig aufwarten.

    Ping ping ping

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    Es bimmelte wieder und wieder. Wo steckte nurder Schaffner? Da wurde jemand ungeduldig.

    PingDer Jemand musste den Finger unablssig auf demKnopf haben.

    Pltzlich kam der Schaffner herbeigeeilt. SeineSchritte hallten auf dem Gang. Er klopfte an eineTr nicht weit von Poirots Abteil.

    Dann Stimmen der Schaffner ehrerbietig und ab-bittend, danach eine Frauenstimme durchdringendund laut.

    Mrs. Hubbard.

    Poirot lchelte vor sich hin.

    Der Wortwechsel wenn man von Wechsel redenkonnte dauerte eine Weile an. Es waren neunzigProzent Mrs. Hubbard gegen besnftigende zehnProzent des Schaffners. Endlich schien die Sachebeigelegt. Poirot hrte ein deutliches Bonne nuit, Ma-dame und eine zugehende Tr.

    Nun drckte er auf den Knopf.Der Schaffner war sofort da. Er war ganz rot im

    Gesicht und wirkte verstrt.

    De leau minrale, sil vous plat.

    Bien, Monsieur. Vielleicht war es ein Blitzen inPoirots Augen, das den Mann dazu einlud, sein Herzauszuschtten.

    La dame amricaine

    Ja?

    Er wischte sich die Stirn ab.

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    Sie glauben nicht, was ich mit ihr durchmache! Siebehauptet steif und fest , dass ein Mann in ihrem

    Abteil war! Versuchen Sie sich das vorzustellen,Monsieur. In sooo einem kleinen Abteil. Er zeigtedie Gre mit den Hnden an. Wo sollte er sichdenn da verstecken? Ich rede ihr zu. Ich sage ihr, wieunmglich das ist. Aber sie bleibt dabei. Sie ist auf-gewacht, und da war ein Mann in ihrem Abteil. Undwie, bitte, frage ich, ist er hinausgekommen und hathinter sich die Tr von innen abgeschlossen? Abersie hrt nicht auf Argumente. Als ob wir nicht schongenug Sorgen htten. Dieser Schnee

    Schnee?

    Aber ja, Monsieur. Haben Monsieur es noch nicht

    gemerkt? Der Zug ist stehen geblieben. Wir steckenin einer Schneeverwehung fest. Wei der Himmel, wie lange uns das hier aufhlt. Ich erinnere mich,dass wir einmal sieben Tage eingeschneit waren.

    Wo sind wir jetzt?

    Zwischen Vincovci und Brod.

    L, l, machte Poirot verrgert.Der Schaffner ging und kam mit dem Wasser zu-

    rck.

    Bonsoir, Monsieur.

    Poirot trank ein Glas Wasser und legte sich wieder

    hin.Er wollte gerade einschlafen, als ihn schon wieder

    etwas weckte. Diesmal hatte es sich angehrt, als obetwas Schweres gegen seine Tr gefallen wre.

    Er sprang auf, ffnete und sah hinaus. Nichts. Aberrechts, ein Stck weiter den Gang hinunter, entfernte

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    sich eine Frau in einem blutroten Kimono. Am ande-ren Ende des Gangs sa der Schaffner auf seinemkleinen Klappsitz und schrieb Zahlen auf groe Blt-ter. Alles war totenstill.

    Mir machen anscheinend die Nerven zu schaffen,sagte Poirot und legte sich wieder zu Bett. Diesmalschlief er durch bis zum Morgen.

    Als er aufwachte, stand der Zug immer noch. Er

    schob ein Rollo hoch und schaute hinaus. MchtigeSchneewehen umgaben den Zug.

    Er sah auf die Uhr. Es war schon nach neun.

    Um Viertel vor zehn begab er sich, geschniegeltund gestriegelt wie immer, in den Speisewagen, woein Chor der Wehklagen im Gange war.

    Alle Schranken, die zwischen den Passagieren nochbestanden haben mochten, waren jetzt endgltig ge-fallen. Sie waren geeint im gemeinsamen Unglck.Mrs. Hubbard lamentierte am lautesten.

    Meine Tochter hat gesagt, es wre das Einfachsteauf der Welt. Ich soll einfach im Zug sitzen bleiben,bis ich in Paris bin. Und jetzt stecken wir hier wo-mglich tagelang fest, jammerte sie. Dabei gehtmein Schiff bermorgen. Wie soll ich das jetzt nocherreichen? Ich kann ja nicht einmal telegrafieren undmeine berfahrt streichen. Ich bin so wtend, dassich es gar nicht sagen kann.

    Der Italiener behauptete, auf ihn warteten in Mai-land dringende Geschfte. Der vierschrtige Ameri-kaner erklrte, es sei aber auch zu schlimm, Ma-dam, und uerte beschwichtigend die Hoffnung,dass der Zug die Zeit vielleicht wieder hereinholen

    knne.

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    Es fehlten die Frstin Dragomiroff und das ungari-sche Ehepaar. Ebenso Ratchett, sein Diener und diedeutsche Zofe.

    Die Schwedin wischte sich die Trnen aus den Au-gen.

    Ich so dumm, sagte sie. Ich weine wie Baby. Wasauch passiert, sicher ist gut.

    Diese wahrhaft christliche Einstellung wurde je-

    doch keineswegs geteilt.Alles schn und gut, meinte MacQueen besorgt.

    Aber wir knnen Tage hier festsitzen.

    In welchem Land sind wir berhaupt?, begehrteMrs. Hubbard unter Trnen zu erfahren.

    Als sie darber aufgeklrt wurde, dass man in Jugo-slawien sei, rief sie: O Gott, auf dem Balkan! Waskann man da schon erwarten!

    Sie sind hier die Einzige, die sich in Geduld fasst,Mademoiselle, sagte Poirot zu Miss Debenham.

    Sie zuckte mit den Schultern. Was kann man denn

    schon machen?Sie sind eine wahre Philosophin, Mademoiselle.

    Das wrde Abgeklrtheit voraussetzen. Ich glaubeaber, bei mir ist es eher Eigennutz. Ich habe gelernt,mir unntze Gefhle zu ersparen.

    Sie sah ihn dabei nicht einmal an. Ihr Blick ging anihm vorbei zum Fenster, vor dem der Schnee sichtrmte.

    Sie sind eine sehr starke Persnlichkeit, Mademoi-selle, sagte Poirot freundlich. Ich glaube sogar, Siesind die Strkste von uns allen.

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    O nein. Das nun wirklich nicht. Ich kenne jeman-den, der viel strker ist als ich.

    Und das ist ?Sie schien ganz pltzlich zur Besinnung zu kom-men, sich bewusst zu werden, dass sie mit einem Wildfremden sprach, einem Auslnder, mit dem siebis zu diesem Morgen hchstens ein halbes DutzendStze gewechselt hatte.

    Ihr Lachen war hflich, aber distanziert.Nun diese alte Dame zum Beispiel. Sie ist Ihnen

    wahrscheinlich schon aufgefallen. Eine sehr hsslichealte Dame, aber eigentlich faszinierend. Sie brauchtnur den kleinen Finger zu heben und ganz hflichum etwas zu bitten schon ist der ganze Zug auf

    den Beinen.Das ist bei meinem Freund Monsieur Bouc auch

    so, sagte Poirot. Aber es kommt daher, dass er einDirektor der Gesellschaft ist, und hat nichts mit sei-ner starken Persnlichkeit zu tun.

    Mary Debenham lchelte.

    So ging der Vormittag dahin. Etliche Reisende,auch Poirot, blieben im Speisewagen. Man hatte wohldas Gefhl, gemeinsam die Zeit angenehmer zu verbringen. So bekam er noch einiges mehr berMrs. Hubbards Tochter zu hren und lernte die Le-

    bensgewohnheiten des verstorbenen Mr. Hubbardkennen, angefangen beim morgendlichen Aufstehenund seinen Frhstcksflocken, endend beim abendli-chen Schlafengehen in Bettsocken, die Mrs. Hubbard eine Lebensgewohnheit ihrerseits fr ihn zustricken pflegte.

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    Whrend er gerade dem etwas wirren Vortrag derSchwedin ber die Ziele ihrer Mission lauschte, kameiner der Schlafwagenschaffner und blieb neben ihmstehen.

    Pardon, Monsieur.

    Ja?

    Eine Empfehlung von Monsieur Bouc, und er w-re froh, wenn Sie die Gte htten, auf ein paar Minu-

    ten zu ihm zu kommen.Poirot stand auf, entschuldigte sich bei der Schwe-

    din und folgte dem Mann aus dem Speisewagen.

    Es war nicht der Schaffner seines Schlafwagens,sondern ein sehr groer, blonder Mann.

    Er folgte ihm durch den eigenen Wagen und dennchsten. Dann klopfte der Schaffner an eine Trund trat beiseite, um Poirot eintreten zu lassen.

    Es war nicht Monsieur Boucs Abteil, sondern einesin der zweiten Klasse, das man wahrscheinlich wegenseiner etwas greren Mae gewhlt hatte. Es wirkte

    jedenfalls schon jetzt ein wenig berfllt.Monsieur Bouc sa auf dem kleinen Sitz in derFensterecke, ihm gegenber ein sonnenverbrannterkleiner Mann, der in den Schnee hinausblickte. In derMitte standen, so dass Poirot nicht weiter hineinge-hen konnte, ein groer Mann in blauer Uniform (der

    chef de train) und Poirots eigener Schlafwagenschaff-ner.

    Ah, mein lieber Freund, rief Monsieur Bouc.Kommen Sie herein. Wir brauchen Sie.

    Der kleine Mann in der anderen Fenstereckerutschte ein Stckchen zur Seite, und Poirot drngte

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    sich an den beiden Stehenden vorbei und setzte sichseinem Freund gegenber.

    Der Ausdruck in Monsieur Boucs Gesicht gab ihm, wie dieser selbst es ausdrcken wrde, schwer zudenken. Es war deutlich zu sehen, dass sich etwasauer der Reihe ereignet haben musste.

    Was ist passiert?, fragte er.

    Das fragen Sie mit Recht. Zuerst dieser Schnee

    der Aufenthalt. Und nun Er hielt inne, und dem Schlafwagenschaffner ent-

    rang sich ein halb erstickter Seufzer.

    Und nun was?

    Nun liegt ein Fahrgast tot in seinem Abteil erstochen.

    Monsieur Bouc sprach in einem Ton stiller Ver-zweiflung.

    Ein Fahrgast? Welcher?

    Ein Amerikaner. Ein Mann namens namens Er sah in seinen Notizen nach. Ratchett ist dasrichtig? Ratchett?

    Ja, Monsieur, stie der Schlafwagenschaffner her-vor.

    Poirot sah ihn an. Der Mann war kreidebleich.

    Er sollte sich lieber hinsetzen, sagte Poirot.Sonst bricht er uns noch zusammen.

    Der Zugfhrer machte Platz, und der Schaffnersank in eine Ecke und grub das Gesicht in die Hn-de.

    Brrr, machte Poirot. Das ist ernst.

    Und wie ernst das ist! Zum einen ein Mord schon das ist eine Katastrophe erster Gte. Aber

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    nicht nur das, hinzu kommen noch die auerge- whnlichen Umstnde. Wir stecken hier fest. Daskann Stunden dauern nicht nur Stunden Tage!Ein weiterer Umstand: In den meisten Lndern,durch die wir kommen, haben wir die jeweilige Poli-zei im Zug. Aber in Jugoslawien nein. VerstehenSie?

    Eine schwierige Situation, sagte Poirot.

    Es kommt noch schlimmer. Dr. Constantine Verzeihung, ich habe Sie noch nicht vorgestellt Dr.Constantine, Monsieur Poirot.

    Der sonnenverbrannte kleine Mann verneigte sich,Poirot ebenfalls.

    Dr. Constantine ist der Meinung, dass der Tod

    heute Nacht gegen ein Uhr eingetreten sein muss.Das ist in solchen Fllen immer schwer zu beurtei-

    len, erklrte der Arzt, aber ich glaube mit Sicherheitsagen zu knnen, dass der Tod zwischen Mitternachtund zwei Uhr morgens eingetreten ist.

    Wann wurde dieser Mr. Ratchett zuletzt lebendgesehen?, fragte Poirot.

    Wir wissen, dass er um zwanzig vor eins noch leb-te, denn da hat er mit dem Schaffner gesprochen,sagte Monsieur Bouc.

    Vollkommen richtig, besttigte Poirot. Ich habe

    es selbst gehrt. Und das ist das Letzte, was manwei?

    Ja.

    Poirot wandte sich dem Arzt zu, der fortfuhr: DasFenster von Mr. Ratchetts Abteil wurde weit offenvorgefunden, was den Schluss zulassen knnte, dass

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    der Tter auf diesem Wege entkommen ist. Abermeines Erachtens ist das offene Fenster eine Irrefh-rung. Wenn jemand auf diesem Wege den Zug ver-lassen htte, wren deutliche Spuren im Schnee zusehen gewesen. Es waren aber keine da.

    Das Verbrechen wurde wann entdeckt?, fragtePoirot.

    Michel!

    Der Schlafwagenschaffner richtete sich auf. Er warnoch immer ganz blass und wirkte verngstigt.

    Berichten Sie diesem Herrn genau, was sich zuge-tragen hat, befahl Monsieur Bouc.

    Der Schaffner redete stoweise.

    Der Diener dieses Monsieur Ratchett er hat heu-te Vormittag ein paar Mal an seine Tr geklopft.Da kam keine Antwort. Dann kam vor einer halbenStunde der Speisewagenkellner um zu fragen, obMonsieur noch frhstcken mchte. Es war schonelf Uhr verstehen Sie?

    Ich habe mit meinem Hauptschlssel seine Abteil-tr aufgeschlossen. Aber da war auch die Kette vor-gelegt. Keine Antwort, alles still da drinnen undkalt, so kalt. Das offene Fenster, und der Schneeweht herein. Ich denke, Monsieur hat vielleicht einenAnfall. Ich hole den chef de train.Wir zerschneiden die

    Kette und gehen hinein. Er ah, ctait terrible!Wieder grub er das Gesicht in die Hnde.

    Die Tr war also abgeschlossen und die Kette voninnen vorgelegt, sagte Poirot bedchtig. Es warkein Selbstmord nein?

    Der griechische Arzt lachte hhnisch.

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    Wrde einer, der Selbstmord begeht, sich mitzehn, zwlf fnfzehn Messerstichen an verschie-denen Stellen umbringen?

    Poirot riss die Augen auf.

    Wie barbarisch!, sagte er.

    Es war eine Frau, lie sich jetzt der Zugfhrerzum ersten Mal vernehmen. Verlassen Sie sich dar-auf, es war eine Frau. So sticht nur eine Frau zu.

    Dr. Constantine zog das Gesicht in nachdenklicheFalten.

    Das msste aber eine sehr krftige Frau gewesensein, sagte er. Ich mchte hier nicht ins Einzelnegehen das wrde nur verwirren , aber ich versi-chere Ihnen, einige Stiche wurden mit solcher Kraftgefhrt, dass sie durch einen harten Panzer aus Kno-chen und Muskelgewebe gedrungen sind.

    Es war demnach kein fachmnnisch ausgefhrterMord, meinte Poirot.

    Hchst unfachmnnisch, sagte Dr. Constantine.

    Wie es aussieht, hat man vllig wahl- und planlosauf ihn eingestochen. Einige Stiche sind abgeglittenund haben kaum Schaden angerichtet. Es scheint, alshtte jemand die Augen geschlossen und in blinderWut immer wieder zugestochen.

    Cest une femme,wiederholte der Zugfhrer. Frau-

    en tun so etwas. Wenn sie wtend sind, haben sieRiesenkrfte. Er nickte so wissend, dass alle einepersnliche Erfahrung hinter seinen Worten vermu-teten.

    Ich habe vielleicht etwas zu Ihrem bisherigen Wis-sen beizusteuern, sagte Poirot. Monsieur Ratchett

    hat mich gestern angesprochen. Soweit ich ihn ver-

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    standen habe, wollte er mir sagen, dass sein Leben inGefahr sei.

    Also kaltgemacht, wie die Amerikaner sagen,meinte Monsieur Bouc. Demnach war es doch keineFrau, sondern ein Gangster, ein Killer.

    Der Zugfhrer machte ein richtig unglcklichesGesicht, als er seine schne Theorie in sich zusam-menfallen sah.

    In diesem Fall, sagte Poirot, htte er aber offen-bar sehr dilettantisch gearbeitet.

    Aus seinem Ton sprach professionelle Missbilli-gung.

    Wir haben so einen vierschrtigen Amerikaner imZug, verfolgte Monsieur Bouc seine Theorie weiter.Der Mann sieht sehr gewhnlich aus und istschrecklich angezogen. Und er kaut immer so einGummizeug, was man meines Wissens in gehobenenKreisen nicht tut. Sie wissen, wen ich meine?

    Die Frage war an den Schlafwagenschaffner gerich-tet, der nickte.

    Oui, Monsieur, in Nummer sechzehn. Aber erkann es nicht gewesen sein. Ich htte ihn ins Abteilgehen oder wieder herauskommen sehen.

    Nicht unbedingt, nicht unbedingt. Aber daraufkommen wir spter. Die Frage ist jetzt, was sollen

    wir tun? Er sah Poirot an.Poirot sah Monsieur Bouc an.

    Ich bitte Sie, mein Freund, sagte Monsieur Bouc,Sie wissen schon, was ich von Ihnen will. Ich kenneIhre Gaben. Nehmen Sie die Ermittlungen in dieHand. Nein, nein, lehnen Sie nicht ab. Sehen Sie, das

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    ist fr uns eine ernste Angelegenheit ich sprechefr die Compagnie internationale des wagons-lits. Bisdie jugoslawische Polizei kommt wie einfach wrees, wenn wir ihr schon die Lsung prsentierenknnten! Wenn nicht, gibt es nur allerlei Verzge-rungen, Unannehmlichkeiten, tausend rgernisse.Wer wei, womglich geraten sogar vllig unschuldi-ge Leute in Schwierigkeiten. Nein, mon ami, lsen Sieden Fall. Dann sagen wir: Es ist ein Mord geschehen und hier ist der Mrder!

    Und wenn ich den Fall nicht lsen kann?

    Mon cher, mon cher, schmeichelte Monsieur Bouc.Ich kenne Ihren Ruf. Ich kenne Ihre Methoden. Dasist der ideale Fall fr Sie. Das Vorleben aller dieser

    Leute zu durchleuchten, ihren Leumund zu prfen das kostet alles Zeit und bereitet endlose Umstnde. Aber habe ich Sie nicht oft sagen hren, dass mansich nur zurcklehnen und nachdenken muss, umeinen Fall zu lsen? Tun Sie das. Verhren Sie dieFahrgste, nehmen Sie die Leiche in Augenschein,

    suchen Sie Spuren und Hinweise, und dann kurzgesagt, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich wei genau,dass Sie nicht nur prahlen. Lehnen Sie sich zurckund denken Sie nach, machen Sie (wie ich Sie ofthabe sagen hren) Gebrauch von den kleinen grauenZellen Ihres Gehirns und schon werden Sie es wis-

    sen.Er beugte sich zu seinem Freund vor und sah ihnliebevoll an.

    Ihr Vertrauen rhrt mich, mon ami, antwortetePoirot bewegt. Es kann, wie Sie sagen, kein schwie-riger Fall sein. Ich habe selbst schon gestern Abend

    aber davon wollen wir jetzt nicht reden. Es ist wahr,

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    dieses Problem fesselt mich. Es ist noch keine halbeStunde her, dass ich gedacht habe, wie viele StundenLangeweile vor mir liegen, solange wir hier festsitzen.Und nun stellt sich mir bereits ein Problem.

    Sie sagen also ja?, rief Monsieur Bouc begeistert.

    Cest entendu. Legen Sie die Sache in meine Hnde.

    Gut wir stehen Ihnen alle zu Diensten.

    Dann htte ich fr den Anfang gern einen Grund-

    rissplan des Wagens Istanbul-Calais, zusammen miteiner Aufstellung, wer welches Abteil bewohnt. Au-erdem mchte ich die Psse und Fahrkarten sehen.

    Die wird Michel Ihnen besorgen.

    Der Schlafwagenschaffner verlie das Abteil.

    Was sind sonst noch fr Leute im Zug?, fragtePoirot.

    In diesem Wagen sind Dr. Constantine und ich dieeinzigen Fahrgste. Im Schlafwagen aus Bukarestsitzt nur ein alter Mann mit einem lahmen Bein. DerSchaffner kennt ihn. Dahinter kommen die normalen

    Reisewagen, die uns aber nicht interessieren, weil siegestern Abend, nachdem das Essen serviert worden war, abgeschlossen wurden. Vor dem Wagen Istan-bul-Calais befindet sich nur noch der Speisewagen.

    Dann, sagte Poirot bedchtig, sieht es so aus, alsob wir unseren Mrder im Wagen Istanbul-Calais zu

    suchen htten. Er wandte sich an den Arzt. Daswollten Sie doch vorhin andeuten, nicht wahr?

    Der Grieche nickte.

    Wir sind eine halbe Stunde nach Mitternacht indiese Schneeverwehung geraten. Danach kann nie-mand mehr den Zug verlassen haben.

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    Der Mrder, sagte Monsieur Bouc mit feierlichemErnst, ist unter uns er sitzt jetzt in diesem Zug.

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    Sechstes Kapitel

    Eine Frau?

    ls Erstes, sagte Poirot, mchte ich gern ein Wrtchen mit dem jungen Mr. MacQueenreden. Knnte sein, dass er uns wertvolle

    Informationen zu geben hat.

    Gewiss, sagte Monsieur Bouc.Er wandte sich an den Zugfhrer.

    Holen Sie Monsieur MacQueen.

    Der Schaffner kam mit einem Packen Fahrkartenund Psse zurck. Monsieur Bouc nahm sie ihm ab.

    Danke, Michel. Ich glaube, Sie gehen jetzt am be-sten wieder auf Ihren Posten. Wir werden Ihre Aus-sage spter formell aufnehmen.

    Sehr wohl, Monsieur.

    Nun verlie auch Michel das Abteil.

    Wenn wir den jungen MacQueen angehrt ha-

    ben, sagte Poirot, mchte Monsieur le Docteurmichvielleicht ins Abteil des Toten begleiten?

    Gewiss.

    Und wenn wir dort fertig sind

    Aber in diesem Moment kam der Zugfhrer mit

    Hector MacQueen zurck.

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    Monsieur Bouc stand auf. Es ist ein wenig beengthier, sagte er liebenswrdig. Nehmen Sie meinenPlatz, Mr. MacQueen. Monsieur Poirot wird Ihnengegenber sitzen so.

    Er wandte sich an den Zugfhrer.

    Schicken Sie alle Leute aus dem Speisewagen,sagte er, und halten Sie ihn fr Monsieur Poirot frei.Sie werden Ihre Befragungen doch lieber dort vor-

    nehmen, mon cher?Ja, das wre am praktischsten, pflichtete Poirot

    ihm bei.

    MacQueen hatte die ganze Zeit vom einen zum an-deren gesehen; offenbar konnte er dem schnellenfranzsischen Wortwechsel nicht folgen.

    Quest-ce quil y a?begann er holprig. Pourquoi ?Poirot wies ihn mit einer raschen Gebrde auf den

    Eckplatz. MacQueen setzte sich und begann vonneuem: Pourquoi ?

    Doch dann besann er sich und fuhr in seiner Mut-

    tersprache fort: Was ist denn in diesem Zug los? Istetwas passiert?

    Er blickte vom einen zum anderen.

    Poirot nickte.

    Ganz recht. Es ist etwas passiert. Machen Sie sichauf einen Schrecken gefasst. Ihr Arbeitgeber, Mr. Rat-chett, ist tot.

    MacQueen spitzte die Lippen wie zu einem Pfiff. Auer dass seine Augen eine Spur heller glnzten,verriet er keinerlei Erschrecken oder Bestrzung.

    Haben sie ihn also doch erwischt, meinte er.

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    Was wollen Sie denn damit sagen, Mr. Mac-Queen?

    MacQueen zgerte.Sie nehmen also an, hakte Poirot nach, dass Mr.Ratchett ermordet wurde?

    Etwa nicht? Diesmal zeigte MacQueen sich docherstaunt. Ja, ja, sagte er dann bedchtig, genau dashatte ich angenommen. Wollen Sie sagen, dass er

    einfach im Schlaf gestorben ist? Aber der Alte wardoch so robust wie robust wie

    Er hielt inne, weil ihm kein Vergleich einfiel.

    Nein, nein, sagte Poirot, Ihre Annahme war vl-lig richtig. Mr. Ratchett wurde ermordet. Erstochen. Aber ich mchte gern wissen, warum Sie so sicherangenommen haben, dass es Mord war, dass er nichteinfach gestorben ist?

    MacQueen zgerte.

    ber eines sollte ich Klarheit haben, sagte er end-lich. Wer sind Sie, und was haben Sie damit zu tun?

    Ich arbeite fr die Compagnie internationale deswagons-lits. Er legte eine kurze Pause ein, bevor erweitersprach: Ich bin Detektiv. Mein Name ist Her-cule Poirot.

    Falls er geglaubt hatte, Eindruck zu machen, so saher sich getuscht. MacQueen sagte nur: Ach ja?,

    und wartete, ob noch mehr kam.Der Name ist Ihnen vielleicht bekannt?

    Hm, ja, irgendwo habe ich ihn schon gehrt ichdachte nur immer, das wre ein Damenschneider.

    Hercule Poirot musterte ihn angewidert.

    Nicht zu fassen!, sagte er.

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    Was ist nicht zu fassen?

    Nichts. Fahren wir in unserer Angelegenheit fort.

    Ich mchte von Ihnen, Mr. MacQueen, alles erfah-ren, was Sie ber den Toten wissen. Sie waren nichtmit ihm verwandt?

    Nein, ich bin ich war sein Sekretr.

    Wie lange?

    Seit ber einem Jahr.

    Bitte sagen Sie mir alles, was Sie wissen.Nun gut. Ich habe Mr. Ratchett vor etwas ber ei-

    nem Jahr kennen gelernt, da war ich in Persien

    Poirot unterbrach ihn: Was hatten Sie da zu tun?

    Ich war da von New York aus hingefahren und

    wollte mich um eine lkonzession bemhen. Ichglaube aber nicht, dass Sie das alles hren wollen.Meine Freunde und ich wurden ziemlich bel aufsKreuz gelegt. Mr. Ratchett wohnte im selben Hotel.Er hatte sich gerade mit seinem Sekretr berworfen.Da hat er mir die Stelle angeboten, und ich habe sie

    genommen. Ich hing in der Luft und war froh, einegut bezahlte Stelle sozusagen auf dem Tablett serviertzu bekommen.

    Und seitdem?

    Seitdem sind wir umhergereist. Mr. Ratchett wolltedie Welt sehen. Dabei war ihm hinderlich, dass er

    keine Fremdsprachen beherrschte. Ich war fr ihnmehr Reisemarschall als Sekretr. Ein angenehmesLeben.

    Erzhlen Sie mir jetzt ber Ihren Arbeitgeber, so-viel Sie wissen.

    Das ist nicht so einfach.

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    Wie hie er mit vollem Namen?

    Samuel Edward Ratchett.

    Er war amerikanischer Staatsbrger?Ja.

    Aus welchem Teil Amerikas kam er?

    Wei ich nicht.

    Gut, dann sagen Sie mir, was Sie wissen.

    Um ehrlich zu sein, Monsieur Poirot, ich wei garnichts. Mr. Ratchett hat nie von seinem Leben inAmerika gesprochen.

    Hatte das wohl einen Grund, was glauben Sie?

    Ich wei es nicht. Ich dachte mir, er schmt sichvielleicht seiner Herkunft. So etwas gibt es ja.

    Halten Sie das fr eine befriedigende Erklrung?Ehrlich gesagt, nein.

    Hatte er Verwandte?

    Erwhnt hat er nie etwas davon.

    Poirot lie nicht locker. Sie mssen sich doch ir-

    gendeineMeinung gebildet haben, Mr. MacQueen.Ja, schon, das habe ich. Zum einen glaube ich

    nicht, dass Ratchett sein richtiger Name war. Ich binziemlich fest davon berzeugt, dass er Amerika ver-lassen hat, um sich vor irgendetwas oder jemandemin Sicherheit zu bringen. Das ist ihm wohl auch ge-

    lungen bis vor ein paar Wochen.Und da?

    Da bekam er die ersten Briefe. Drohbriefe.

    Haben Sie die Briefe gesehen?

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    Ja. Es gehrte ja zu meinen Aufgaben, mich umseine Korrespondenz zu kmmern. Der erste Briefkam vor vierzehn Tagen.

    Wurden diese Briefe vernichtet?

    Nein, ich glaube, ich habe noch zwei in meinenAkten von einem wei ich nur, dass Mr. Ratchettihn in der Wut zerrissen hat. Soll ich sie holen?

    Wenn Sie so freundlich wren.

    MacQueen verlie das Abteil. Wenige Minuten sp-ter kam er wieder und legte zwei ziemlich ver-schmutzte Bltter Schreibpapier vor Poirot hin.

    Der erste Brief lautete:

    Du hast gedacht, du knntest uns reinlegen und

    dich davonmachen. Da bist du schief gewickelt! Wir wollen dich kriegen, Ratchett, und wir werden dichkriegen!

    Eine Unterschrift fehlte.

    Poirot nahm ohne Kommentar, nur mit leichthochgezogenen Augenbrauen, den zweiten Brief zur

    Hand. Wir nehmen dich mit auf eine Reise, Ratchett.

    Schon bald. Wir kriegen dich, verstanden?

    Poirot lie den Brief sinken. Der Stil ist etwas ein-tnig, meinte er. Eintniger als die Handschrift.

    MacQueen sah ihn mit groen Augen an.

    Sie wrden so etwas nicht merken, erklrte Poirotliebenswrdig. Dafr ist das Auge eines Menschengefordert, der sich in derlei Dingen auskennt. DieserBrief wurde nicht von einer Person abgefasst, Mr.MacQueen. Zwei oder mehr Leute haben ihn ge-

    schrieben jeder abwechselnd einen Buchstaben.

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    Auerdem in Druckschrift. Das erschwert die Identi-fizierung der Handschrift sehr.

    Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:Wussten Sie, dass Mr. Ratchett sich um Hilfe anmich gewandt hat?

    An Sie?

    MacQueens verwunderter Ton sagte Poirot mitgroer Gewissheit, dass der junge Mann davon wirk-

    lich nichts gewusst hatte. Er nickte.Ja. Er hatte Angst. Sagen Sie mir: Wie hat er rea-

    giert, als er den ersten Brief bekam?

    MacQueen zgerte.

    Das ist schwer zu sagen. Er hat ihn mit einem

    stillen Lachen abgetan, wie es so seine Art war. Aberirgendwie , er schttelte sich ein wenig irgend-wie hatte ich das Gefhl, dass unter dieser scheinba-ren Gelassenheit etwas in ihm vorging.

    Poirot nickte. Dann stellte er eine unerwartete Fra-ge.

    Mr. MacQueen, sagen Sie mir doch einmal ganzehrlich, wie Sie zu Ihrem Arbeitgeber standen?Mochten Sie ihn?

    Hector MacQueen lie sich mit der Antwort einenMoment Zeit.

    Nein, sagte er schlielich. Ich mochte ihn nicht.

    Warum nicht?

    Das kann ich nicht genau sagen. Er war in seinerArt eigentlich immer ganz umgnglich. Er berlegte,ehe er fortfuhr: Um ehrlich zu sein, Monsieur Poi-rot, ich konnte ihn nicht leiden und habe ihm nie

    ber den Weg getraut. Ich glaube mit Bestimmtheit,

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    dass er ein brutaler und gefhrlicher Mensch war. Aber ich muss gestehen, dass ich Ihnen fr dieseMeinung keinen Grund nennen kann.

    Danke, Mr. MacQueen. Noch eine Frage wannhaben Sie Mr. Ratchett zuletzt lebend gesehen?

    Gestern Abend, gegen Er musste lange nach-denken. Gegen zehn Uhr, wrde ich sagen. Da binich in sein Abteil gegangen, um mir ein paar Notizen

    von ihm zu holen.Notizen zu was?

    Zu irgendwelchen antiken Kacheln und Tpferei-en, die er in Persien gekauft hatte. Was geliefert wur-de, war nicht, was er gekauft hatte. Es gab in dieserAngelegenheit eine lange, unerquickliche Korrespon-

    denz.Und da wurde Mr. Ratchett zum letzten Mal le-

    bend gesehen?

    Vermutlich ja.

    Wissen Sie, wann Mr. Ratchett den letzten Droh-

    brief erhalten hat?Am Morgen des Tages, an dem wir von Konstan-tinopel aufgebrochen sind.

    Eine Frage muss ich Ihnen noch stellen, Mr.MacQueen: Standen Sie mit Ihrem Arbeitgeber aufgutem Fu?

    Pltzlich begann es in den Augen des jungen Man-nes zu blitzen.

    An dieser Stelle soll ich wohl das groe Zhne-klappern bekommen, nicht? Um es in der Spracheder Kriminalromane zu sagen: Sie haben nichts ge-

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    gen mich in der Hand. Mr. Ratchett und ich standenmiteinander auf allerbestem Fu.

    Dann nennen Sie mir jetzt vielleicht noch Ihrenvollen Namen, Mr. MacQueen, und Ihre Adresse inAmerika.

    MacQueen nannte ihm seinen Namen: Hector Wil-lard MacQueen, und eine Adresse in New York.

    Poirot lehnte sich in die Polster zurck.

    Das wre gegenwrtig alles, Mr. MacQueen, sagteer. Ich wre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dieSache mit Mr. Ratchetts Tod noch ein Weilchen frsich behalten knnten.

    Aber sein Diener, Masterman, muss es doch erfah-ren.

    Der wird es wohl schon wissen, meinte Poirottrocken. Wenn ja, dann versuchen Sie ihm beizu-bringen, dass er den Mund halten soll.

    Das drfte nicht weiter schwer sein. Er ist Briteund hlt sich, wie er selbst es ausdrckt, gern fr

    sich. Er hat keine hohe Meinung von Amerikanernund gar keine Meinung von allen anderen Nationali-tten.

    Danke, Mr. MacQueen.

    Der Amerikaner verlie das Abteil.

    Nun?, wollte Monsieur Bouc sofort wissen.

    Glauben Sie, was er sagt, der junge Mann?Er wirkt auf mich ehrlich und aufrichtig. Er hat

    uns keinerlei Sympathie fr seinen Arbeitgeber vor-gespielt, wie er es mit Sicherheit getan htte, wenn erin irgendeiner Weise verwickelt wre. Gewiss, Mr.Ratchett hat ihm nichts davon gesagt, dass er verge-

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    bens versucht hat, mich in seine Dienste zu nehmen,aber das halte ich eigentlich noch nicht fr einen verdchtigen Umstand. Ich stelle mir vor, dass Mr.Ratchett so einer war, der immer alles fr sich be-hielt, wenn es eben ging.

    Also erklren Sie schon mindestens eine Persondes Verbrechens fr unschuldig, meinte MonsieurBouc gnnerhaft.

    Poirot warf ihm einen tadelnden Blick zu.Ich? Ich verdchtige alle und jeden bis zur letzten

    Minute, sagte er. Trotzdem gebe ich zu, ich kannmir nicht vorstellen, dass dieser ruhige, umsichtigeMr. MacQueen derart den Kopf verloren und eingutes Dutzend Mal auf seinen Arbeitgeber eingesto-

    chen haben soll. Das entsprche nicht seiner Mentali-tt nein, ganz und gar nicht.

    Nein, meinte Monsieur Bouc bedchtig. So et-was ist die Tat eines Mannes, den blindwtiger Hassfast um den Verstand gebracht hat es spricht eherfr ein sdlndisches Temperament. Oder aber es

    spricht, wie unser guter chef de train so felsenfestberzeugt ist, fr eine Frau.

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    Siebtes Kapitel

    Die Leiche

    it Dr. Constantine im Gefolge begab sichPoirot in den nchsten Wagen und dort zudem Abteil, das der Ermordete innegehabt

    hatte. Der Schaffner kam und schloss ihnen mit sei-nem Hauptschlssel die Tr auf.

    MDie beiden Mnner traten ein. Poirot wandte sich

    fragend an seinen Begleiter.

    Was wurde in diesem Abteil alles verndert?

    Es wurde nichts angerhrt. Ich selbst habe michsehr bemht, die Leiche bei der Untersuchung nicht

    zu bewegen.Poirot nickte. Dann blickte er sich um.

    Das Erste, was seine Sinne wahrnahmen, war dieEisesklte. Das Fenster war so tief hinuntergescho-ben, wie es nur ging, das Rollo hochgezogen.

    Brrr, machte Poirot.Der andere lchelte verstndnisvoll. Ich wollte eslieber nicht schlieen, sagte er.

    Poirot nahm das Fenster sorgfltig in Augenschein.

    Sie haben Recht, sagte er. Niemand hat den Wa-gen auf diesem Wege verlassen. Das offene Fenster

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    sollte vielleicht zu diesem Schluss verfhren, aber derSchnee hat diese Absicht des Mrders durchkreuzt.

    Er beugte den Fensterrahmen von allen Seiten.Dann nahm er ein Schchtelchen aus seiner Jacken-tasche und pustete etwas Pulver darauf.

    Keinerlei Fingerabdrcke, sagte er. Das heit,der Rahmen wurde abgewischt. Aber gut, wenn wel-che darauf wren, wrden sie uns wenig sagen. Sie

    wrden von Mr. Ratchett oder seinem Diener oderdem Schaffner stammen. Verbrecher begehen solcheFehler heutzutage nicht mehr.

    Und da dies so ist, fuhr er vergngt fort, knnen wir das Fenster ebenso gut schlieen. Hier ist es jawie in einem Eiskeller!

    Er lie seinen Worten die Tat folgen, dann wandteer seine Aufmerksamkeit zum ersten Mal der reglo-sen Gestalt im Bett zu.

    Ratchett lag auf dem Rcken. Seine mit rostrotenFlecken bedeckte Schlafanzugjacke war geffnet undzurckgeschlagen.

    Ich musste mich ber die Art der Wunden kundigmachen, erklrte der Arzt.

    Poirot nickte. Er beugte sich ber den Leichnam.Endlich richtete er sich mit einer Grimasse wiederauf.

    Kein schner Anblick, sagte er. Jemand musshier gestanden und ein ums andere Mal zugestochenhaben. Wie viele Wunden sind es genau?

    Ich habe zwlf gezhlt. Die eine oder andere ist soklein, dass man sie hchstens als Kratzer bezeichnenkann. Andererseits waren mindestens drei geeignet,

    jede fr sich den Tod herbeizufhren.

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    Etwas im Ton des Arztes lie Poirot aufhorchen.Er sah ihn scharf an. Der kleine Grieche starrte mitverwundertem Stirnrunzeln auf die Leiche hinunter.

    Ihnen kommt etwas komisch vor, nicht wahr?,fragte er freundlich. Sagen Sie es mir, mein Freund.Irgendetwas gibt Ihnen Rtsel auf?

    Sie haben Recht, besttigte der andere.

    Was denn?

    Sehen Sie, diese beiden Wunden hier und hier Er zeigte darauf. Sie sind so tief, dass bei jedemStich Blutgefe durchtrennt worden sein mssen und trotzdem die Rnder klaffen nicht auseinander.Sie haben nicht geblutet, wie es eigentlich zu erwar-ten gewesen wre.

    Was bedeutet ?Dass der Mann tot war schon einige Zeit tot ,

    als ihm diese Wunden beigebracht wurden. Aber dasist natrlich widersinnig.

    Sollte man meinen, sagte Poirot bedchtig. Es

    sei denn, unser Mrder hatte das Gefhl, sein Werknicht ordentlich vollbracht zu haben, und ist nocheinmal zurckgekommen, um sicherzugehen; aberdas ist vollkommen widersinnig! Noch etwas?

    Ja, noch eins.

    Und das wre?

    Sehen Sie diese Wunde hier unter dem rechten Arm nah bei der rechten Schulter. Hier, nehmenSie einmal meinen Bleistift. Knnten Sie so zuste-chen?

    Poirot hob die Hand.

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    Prcisment, sagte er. Ich verstehe. Mit der rechtenHand wre das uerst schwierig geradezu unmg-lich. Man msste gewissermaen mit einer Rckhandzustoen. Wenn aber der Stich mit der linkenHandgefhrt wurde

    Genau, Monsieur Poirot. Dieser Stich wurde fastbestimmt mit der linkenHand gefhrt.

    So dass unser Mrder ein Linkshnder wre?

    Nein, die Sache ist komplizierter, stimmts?Sie sagen es, Monsieur Poirot. Einige andere Sti-

    che wurden ebenso offensichtlich mit der rechtenHand gefhrt.

    Also zwei Personen. Wieder haben wir es mit zweiPersonen zu tun, murmelte der Detektiv. Dann

    fragte er pltzlich:War das elektrische Licht an?

    Das ist schwer zu sagen. Der Strom wird nmlichjeden Morgen gegen zehn Uhr vom Schaffner abge-stellt.

    Die Schalterstellungen werden es uns sagen,meinte Poirot.

    Er besah sich den Schalter der Deckenlampe undder Leselampe. Beide standen auf aus.

    Eh bien, meinte er nachdenklich. Als Arbeits-hypothese haben wir also einen ersten Mrder und

    einen zweiten Mrder, wie es beim groen Shake-speare heien wrde. Der erste Mrder hat sein Op-fer erstochen, das Abteil verlassen und dabei dasLicht ausgeschaltet. Der zweite Mrder kam imDunkeln, sah nicht, dass seine oder ihre Arbeit be-reits getan war, und stach mindestens noch zweimal

    auf den Toten ein.Que pensez-vous de a?

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    Groartig, rief der kleine Doktor begeistert.

    Poirots Augen blitzten. Finden Sie? Freut mich zu

    hren. Mir selbst kommt es ein bisschen unsinnigvor.

    Was kann es denn sonst fr eine Erklrung ge-ben?

    Das frage ich mich ja auch. Liegt hier ein zuflligesZusammentreffen vor oder was? Gibt es noch ande-

    re Ungereimtheiten, die einen Hinweis darauf bieten,dass zwei Personen im Spiel sind?

    Ich glaube, das kann ich bejahen. Wie ich schonsagte, deuten einige der Stiche auf eine Schwche hin mangelnde Kraft oder mangelnde Entschlossen-heit. Sie wurden halbherzig gefhrt und sind abgeglit-

    ten. Aber der hier und der Er zeigte wieder aufdie Stiche. Sie erforderten groe Krperkraft. Siesind glatt durch den Muskel gedrungen.

    Sie meinen, das knne nur ein Mann gewesensein?

    Mit aller Bestimmtheit.

    Es knnte nicht doch eine Frau gewesen sein?

    Eine sehr athletische junge Frau knnte ihm dieseWunden beigebracht haben, vor allem, wenn sie un-ter dem Einfluss einer heftigen Gefhlsbewegungstand, aber nach meiner Meinung ist das hchst un-

    wahrscheinlich.Poirot war eine Zeit lang still.

    Sie verstehen, was ich meine?, fragte der Doktorgespannt.

    Vollkommen, antwortete Poiro