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fallbericht Das Mal de Debarquement Syndrom Pathophysiologische Konzepte einer seltenen sensomotorischen Phantomempfindung und Fallbericht einer jungen Frau mit anhaltendem Schwankschwindel nach längerer Seefahrt. P. S. Rommer 1 , G. Wiest 1 Einleitung Phantomempfindungen, also paradoxe sensorische Wahrnehmungen, werden beim Menschen in der Literatur vor allem nach der Entfernung von Gliedmaßen, Zähnen oder Augen beschrieben. Patho- physiologisch geht man derzeit davon aus, dass es sich dabei um ein Phänomen der neuralen Reorganisation handelt, die als Folge der neuen sensomotorischen Situa- tion stattfindet. Weit weniger bekannt ist die Tatsache, dass ähnliche paradoxe Erscheinungsbil- der auch nach längerer abnormer sensori- scher Stimulation auftreten können. Patho- physiologisch scheint es sich dabei weniger um ein neurales Reorganisationsphäno- men, sondern um ein sensomotorisches Rekalibrationsproblem zu handeln. Die vorliegende Fallbeschreibung soll verdeut- lichen, dass derartige sensorische Phan- tomempfindungen auch im vestibulären System beobachtet werden können. Wir berichten den Fall einer jungen Pa- tientin, die aufgrund eines seit mehr als ei- nem Monat bestehenden Schwank- schwindels zur neurologischen Abklärung zugewiesen wurde. Von HNO-ärztlicher Seite konnten keine peripher vestibulären Störungen diagnostiziert werden, sodass eine zentral-vestibuläre oder psychogene Genese ausgeschlossen werden sollte. Kasuistik Anamnestisch unternahm die 31 jährige Patientin ein Monat vor der klinisch-neu- rologischen Untersuchung eine 16-stün- dige Schifffahrt auf der Ostsee. Unmittel- bar nach Verlassen des Schiffes verspürte die Patientin damals einen kontinuierli- chen Schwankschwindel mit begleitender Zugtendenz nach hinten. Diese Sympto- matik verstärkte sich in der Folge während des Stehens bzw. während des Gehens, selbst im Liegen oder Sitzen war die Pati- entin nicht vollends beschwerdefrei. Wäh- rend der Schifffahrt sei es ihr interessan- terweise gut gegangen, insbesondere sie sei nicht seekrank gewesen. Eine ähnliche Symptomatik – mit Schwankschwindel- symptomen nach Verlassen eines Schiffes – hätte die Patientin bereits wenige Jahre zuvor nach einer sechsstündigen Schiff- fahrt verspürt. Die damalige Schwindel- symptomatik hätte jedoch nur wenige Tage angedauert. Bei der klinischen Untersuchung gab die Patientin an, dass es in Dunkelheit zu keiner Verstärkung des Schwindels käme, ebenso wurden Ohrgeräusche oder Tinni- tus verneint. Husten, Pressen und Niesen würden zu keiner Zunahme der Beschwer- den führen. Auch die übrige Anamnese hinsichtlich neurologischer oder internis- tischer Vorerkrankungen war unauffällig. Typische Migränesymptome wurden von der Patientin verneint, obwohl sie fall- weise „retroorbitalen Druck“ angab; die Familienanamnese hinsichtlich Migräne war ebenfalls unauffällig. Klinisch neurologisch konnten keine Auffälligkeiten festgestellt werden, insbe- sondere zeigte die Patientin einen unauf- fälligen vestibulo-okulären Reflex im head-thrust Test, keine Zeichen einer Po- lyneuropathie oder sensorischen Ataxie, sowie in den Lagerungstests keinen Hin- weis für einen benignen paroxysmalen La- gerungsschwindel. Die weitere diagnosti- sche Abklärung mittels MRT und MRA des Gehirns erbrachte unauffällige Ergeb- nisse, vor allem fanden sich keine abnor- men Gefäßkontakte mit dem 8. Hirnner- ven im Sinne einer vestibulären Paroxys- mie und es gab keinen Hinweis für das Bestehen eines Akustikusneurinoms. In der detaillierten vestibulären Diagnostik mittels Videookulografie und Drehstuhl- untersuchung (System 2000, Micromedi- cal Technologies, Illinois, USA) waren sämtliche untersuchten Parameter (Unter- suchung auf Spontannystagmus, Blick- richtungsnystagmus, Sakkadentests, Lang- same Folgebewegungen der Augen, der vestibulo-okuläre Reflex (VOR) und die Suppressionfixation des VOR) im Norm- bereich. Aufgrund der typischen Anamnese und der unauffälligen neurologischen und vestibulären Diagnostik wurde bei der Pa- tientin die Diagnose eines Mal de Debar- quement Syndroms gestellt. Mangels etablierter erapiekonzepte für diese Entität wurde bei der Patientin ein erapieversuch mit 10 mg/d Flunari- zin für 3 Monate initiiert. Pathophysiologische Konzepte zum Mal de Debarquement Syndrom Das Mal de Debarquement Syndrom (MdDS) wird als seltene Manifestation ei- ner akuten vestibulären Dysbalance ange- sehen. Es tritt gewöhnlich nach längerer Schifffahrt, Flug- oder Autoreise auf. Erst- mals berichtete Erasmus Darwin 1796 von diesem Syndrom. Wiederholt gaben vor allem Schiffsleute an, an Land unter Schwindel zu leiden, während sie auf See nicht seekrank waren. Die Schwindelsymptome im Rahmen eines MdDS werden häufig als anhaltend schaukelnd oder schwankend beschrie- ben, während Vertigoepisoden praktisch nie angegeben werden. Häufig assoziierte Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, aus- geprägte Fatigue oder Konzentrationsstö- rung. Eine hormonelle Komponente wird in der Ätiologie des MdDS diskutiert, da das 1 Univ.-Klinik f. Neurologie, Medizinische Universität Wien Das Mal de Debarquement Syndrom wird als seltene Mani- festation einer akuten vestibulären Dysbalance angesehen und tritt gewöhnlich nach längerer Schifffahrt, Flug- oder Autoreise auf. 2/2012 psychopraxis 38 © Springer-Verlag

Das Mal de Debarquement Syndrom

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Page 1: Das Mal de Debarquement Syndrom

fallbericht

Das Mal de Debarquement Syndrom

Pathophysiologische Konzepte einer seltenen sensomotorischen Phantomempfindung und Fallbericht einer jungen Frau mit anhaltendem Schwankschwindel nach längerer Seefahrt.

P. S. Rommer1, G. Wiest1

Einleitung

Phantomempfindungen, also paradoxe sensorische Wahrnehmungen, werden beim Menschen in der Literatur vor allem nach der Entfernung von Gliedmaßen, Zähnen oder Augen beschrieben. Patho-physiologisch geht man derzeit davon aus, dass es sich dabei um ein Phänomen der neuralen Reorganisation handelt, die als Folge der neuen sensomotorischen Situa-tion stattfindet.

Weit weniger bekannt ist die Tatsache, dass ähnliche paradoxe Erscheinungsbil-der auch nach längerer abnormer sensori-scher Stimulation auftreten können. Patho-physiologisch scheint es sich dabei weniger um ein neurales Reorganisationsphäno-men, sondern um ein sensomotorisches Rekalibrationsproblem zu handeln. Die vorliegende Fallbeschreibung soll verdeut-lichen, dass derartige sensorische Phan-tomempfindungen auch im vestibulären System beobachtet werden können.

Wir berichten den Fall einer jungen Pa-tientin, die aufgrund eines seit mehr als ei-nem Monat bestehenden Schwank-schwindels zur neurologischen Abklärung zugewiesen wurde. Von HNO-ärztlicher Seite konnten keine peripher vestibulären Störungen diagnostiziert werden, sodass eine zentral-vestibuläre oder psychogene Genese ausgeschlossen werden sollte.

Kasuistik

Anamnestisch unternahm die 31 jährige Patientin ein Monat vor der klinisch-neu-rologischen Untersuchung eine 16-stün-dige Schifffahrt auf der Ostsee. Unmittel-bar nach Verlassen des Schiffes verspürte die Patientin damals einen kontinuierli-chen Schwankschwindel mit begleitender Zugtendenz nach hinten. Diese Sympto-matik verstärkte sich in der Folge während des Stehens bzw. während des Gehens,

selbst im Liegen oder Sitzen war die Pati-entin nicht vollends beschwerdefrei. Wäh-rend der Schifffahrt sei es ihr interessan-terweise gut gegangen, insbesondere sie sei nicht seekrank gewesen. Eine ähnliche Symptomatik – mit Schwankschwindel-symptomen nach Verlassen eines Schiffes – hätte die Patientin bereits wenige Jahre zuvor nach einer sechsstündigen Schiff-fahrt verspürt. Die damalige Schwindel-symptomatik hätte jedoch nur wenige Tage angedauert.

Bei der klinischen Untersuchung gab die Patientin an, dass es in Dunkelheit zu keiner Verstärkung des Schwindels käme, ebenso wurden Ohrgeräusche oder Tinni-tus verneint. Husten, Pressen und Niesen würden zu keiner Zunahme der Beschwer-den führen. Auch die übrige Anamnese hinsichtlich neurologischer oder internis-tischer Vorerkrankungen war unauffällig.

Typische Migränesymptome wurden von der Patientin verneint, obwohl sie fall-weise „retroorbitalen Druck“ angab; die Familienanamnese hinsichtlich Migräne war ebenfalls unauffällig.

Klinisch neurologisch konnten keine Auffälligkeiten festgestellt werden, insbe-sondere zeigte die Patientin einen unauf-fälligen vestibulo-okulären Reflex im head-thrust Test, keine Zeichen einer Po-lyneuropathie oder sensorischen Ataxie, sowie in den Lagerungstests keinen Hin-weis für einen benignen paroxysmalen La-gerungsschwindel. Die weitere diagnosti-sche Abklärung mittels MRT und MRA des Gehirns erbrachte unauffällige Ergeb-nisse, vor allem fanden sich keine abnor-men Gefäßkontakte mit dem 8. Hirnner-ven im Sinne einer vestibulären Paroxys-mie und es gab keinen Hinweis für das Bestehen eines Akustikusneurinoms. In der detaillierten vestibulären Diagnostik

mittels Videookulografie und Drehstuhl-untersuchung (System 2000, Micromedi-cal Technologies, Illinois, USA) waren sämtliche untersuchten Parameter (Unter-suchung auf Spontannystagmus, Blick-richtungsnystagmus, Sakkadentests, Lang-same Folgebewegungen der Augen, der vestibulo-okuläre Reflex (VOR) und die Suppressionfixation des VOR) im Norm-bereich.

Aufgrund der typischen Anamnese und der unauffälligen neurologischen und

vestibulären Diagnostik wurde bei der Pa-tientin die Diagnose eines Mal de Debar-quement Syndroms gestellt.

Mangels etablierter Therapiekonzepte für diese Entität wurde bei der Patientin ein Therapieversuch mit 10 mg/d Flunari-zin für 3 Monate initiiert.

Pathophysiologische Konzepte zum Mal de Debarquement Syndrom

Das Mal de Debarquement Syndrom (MdDS) wird als seltene Manifestation ei-ner akuten vestibulären Dysbalance ange-sehen. Es tritt gewöhnlich nach längerer Schifffahrt, Flug- oder Autoreise auf. Erst-mals berichtete Erasmus Darwin 1796 von diesem Syndrom. Wiederholt gaben vor allem Schiffsleute an, an Land unter Schwindel zu leiden, während sie auf See nicht seekrank waren.

Die Schwindelsymptome im Rahmen eines MdDS werden häufig als anhaltend schaukelnd oder schwankend beschrie-ben, während Vertigoepisoden praktisch nie angegeben werden. Häufig assoziierte Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, aus-geprägte Fatigue oder Konzentrationsstö-rung. Eine hormonelle Komponente wird in der Ätiologie des MdDS diskutiert, da das

1 Univ.-Klinik f. Neurologie, Medizinische Universität Wien

Das Mal de Debarquement Syndrom wird als seltene Mani-festation einer akuten vestibulären Dysbalance angesehen und tritt gewöhnlich nach längerer Schifffahrt, Flug- oder Autoreise auf.

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Syndrom vor allem bei Frauen (Frauen sind neunmal häufiger betroffen als Männer) in der vierten und fünften Dekade auftritt.

Eine wichtige Differenzialdiagnose des MdDS stellt die Migräne, insbesondere die vestibuläre Migräne bzw. der Migräne-as-soziierte Schwindel dar. Ein wichtiges Un-terscheidungsmerkmal des Migräne-asso-ziierten Schwindels ist jedoch, dass hier die Schwindelsymptome vor allem schon im Zuge der Bewegung (also während der Schiff- oder Autofahrt) auftreten und in Ruhe langsam sistieren, während beim MdDS die Symptome erst nach Verlassen des Schiffs oder Fahrzeugs auftreten und danach oft prolongiert anhalten.

Pathophysiologisch ist die Ursache des MdDS nach wie vor ungeklärt. Neben den zuvor genannten hormonellen Einflüssen wird vor allem ein Zusammenhang mit ei-nem sog. „inappropriaten prädiktiven Mo-dell“ im regeltechnischem Sinn diskutiert. So ist es vorstellbar, dass sich das vestibu-läre System allmählich auf die abnorme

sensorische Stimulation (also das „Schau-keln“ des Schiffes) einstellt bzw. „rekalib-riert“. Ein Beispiel für die Existenz eines „inneren sensomotorischen Regelkreises“, der sich bei äußeren Veränderungen erst wieder rekalibrieren muss, ist das soge-nannte „broken elevator phenomenon“. Dieses Phänomen kennt jeder aus eigener Erfahrung, wenn man eine vertraute Roll-treppe betritt, diese jedoch außer Funktion

ist. Die resultierende kurzzeitige „Unsi-cherheit“ beim Betreten der gestörten Roll-treppe entspricht letztlich den Symptomen des MdDS, da auch hier ein mismatch zwi-schen einem inneren „Erwartungsmodell“ und einer neu zu bewertenden Situation besteht. Anders formuliert, erwartet der Patient mit MdDS nach dem von-Bord-ge-hen an Land ein Schaukeln. Da das Schau-keln ausbleibt, die internen Verarbeitungs-prozesse das Schaukeln jedoch bereits internalisiert sind, kommt es aufgrund des mismatches nun zu einer Scheinbewegung und zum Schwindelgefühl.

Das sogenannte Reafferenzprinzip lie-fert für die oben genannten Überlegungen die pathophysiologischen Hintergründe. Die Grundidee ist folgende: Befehle (Effe-renzen) an Muskeln werden als Kopie (Ef-ferenzkopie) an das System weitergeleitet, welches die Informationen des Sensors (Afferenzen) verarbeitet – in diesem Fall das vestibuläre System. Diese Kopie wird nun mit der Antwort des Sensors (vestibu-

läre System) auf die Efferenz, die soge-nannte Reafferenz, verrechnet. Der Unter-schied (Exafferenz) wird weitergleitet. Stimmen die Efferenzkopie mit den tat-sächlichen Afferenzen überein, empfindet das vestibuläre System keinen Wider-spruch – ist jedoch das Gegenteil der Fall, kommt es zur Störung des Reafferenzprin-zips und damit zu einer Scheinbewegung (siehe Abb. 1).

Ein dem MdDS ähnliches vestibuläres Phänomen kann nach erfolgreichem Be-freiungsmanöver von Patienten mit benig-nem paroxysmalem Lagerungsschwindel beobachtet werden. Auch hier haben sich die Patienten auf eine zuvor bestehende abnorme vestibuläre Stimulation adaptiert und haben nach erfolgreichem Repositi-onsmanöver eine neuerliche Rekalibrie-rung im Gleichgewichtssystem vorzuneh-men. Häufig verspüren diese Patienten bis zu zwei Wochen nach einem erfolgreichen Befreiungsmanöver ein Unsicherheitsge-fühl, als ob sie „auf Watte“ gehen würden. Diese Erklärungsmodelle liefern jedoch nicht die Antwort darauf, warum vor allem Frauen vom MdDS betroffen sind. Ein hor-moneller Zusammenhang wird vermutet (ebenso eine X-chromosomale Kompo-nente), bildet jedoch keine Grundlage für ein klares pathophysiologisches Konzept. Einige wenige Autoren hingegen sehen eine mögliche Assoziation des MdDS mit einer Depression. Dass Migräne nicht nur eine Differenzialdiagnose, sondern dass das MdDS ein spezifischer Phänotyp einer Migräne sei, wird ebenso diskutiert.

Therapeutische Optionen und Prognose des MdDS

Derzeit existieren keine etablierten Thera-piekonzepte für das MdDS. Positive Be-richte liegen zu Benzodiazepinen, Amit-ryptilin oder Oxycodon vor. SSRIs wie auch Antiepileptika (Gabapentin und Ox-carbazepin) zeigten ebenfalls eine Besse-rung der Symptomatik. Entsprechend der kausalen Überlegung bezüglich Migräne wird von einigen Autoren der Kalziuman-tagonist Flunarizin empfohlen. Scopola-min scheint in der Behandlung des MdDS keine Wirkung zu zeigen. Eine physikali-sche Therapie brachte in manchen Fällen eine Besserung der Symptomatik.

Einige Autoren fordern für die Diag-nose eines MdDS eine Dauer von mindes-tens einem Monat. Bei 50 % der Patienten kommt es innerhalb von einem Jahr zu ei-ner Remission der Symptomatik. In einer Studie gab Hain (1999) die durchschnittli-che Dauer mit 3,5 Jahren an. Einige Pati-enten sollen bis zu 10 Jahren unter dem Schwindel leiden. n

Literatur bei den Verfassern

Bei 50% der Patienten kommt es innerhalb von einem Jahr zu einer Remission der Symptomatik. Einige Patienten sollen je-doch bis zu 10 Jahren unter dem Schwindel leiden.

Abb. 1: Das Reafferenzprinzip

Modell

motorischesSystem

sensorisches System

motorischer Befehl

Efferenzkopie korrelierende Erwartungen

sensorisches Feedback

sensorische Diskrepanz

Korrespondenz: Mag. Dr. Paulus Stefan RommerUniv.-Klinik für NeurologieWähringer Gürtel 18–201090 WienE-Mail: [email protected]

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