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Die Politik der großen Zahlen

Die Politikder großenZahlendownload.e-bookshelf.de/download/0000/0093/63/L-G...AlainDesrosi`eres Institut National delaStatistiqueet des Etudes´ Economiques´ INSEE-TimbreD 005 BoulevardAdolphePinard18

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  • Die Politik der großen Zahlen

  • Alain Desrosières

    Die Politikder großen ZahlenEine Geschichte der statistischen Denkweise

    Aus dem Französischen von Manfred Stern

    123

  • Alain Desrosières

    Institut National de la Statistique et des Études ÉconomiquesINSEE-Timbre D 005Boulevard Adolphe Pinard 1875014 Paris, France

    Übersetzer:Manfred SternKiefernweg 806120 Halle, Germany

    e-mail: [email protected]

    Ouvrage publíe avec le concours du Ministère français de la Culture-Centre national du livre.Dieses Werk wurde mit Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur (Centre national dulivre) veröffentlicht.

    Übersetzung der 2. Auflage von “La Politique des Grands Nombres – Histoire de la raison statistique”©Éditions La Découverte, Paris, France 1993, 2000.

    Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail-lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    ISBN 3-540-20655-8 Springer Berlin Heidelberg New York

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die derÜbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funk-sendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung inDatenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Ver-vielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzender gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9.September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig.Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.

    Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media

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    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005Printed in Germany

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werkberechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinneder Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher vonjedermann benutzt werden dürften.

    Satz: Reproduktionsfertige Vorlage vom ÜbersetzerHerstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, LeipzigEinbandgestaltung: design & production GmbH, Heidelberg

    Gedruckt auf säurefreiem Papier 46/3142YL - 5 4 3 2 1 0

  • Zum Gedenken an Michaël Pollak, dessen moralischer Anspruch unddessen Arbeit zur Politik der Sozialwissenschaften einen großen Ein-fluß auf dieses Buch hatten.

  • VI

    STADER: ... Hören Sie mich an: Mein Institut arbeitet mit den neu-zeitlichen Mitteln der Wissenschaft. Mit Graphologik, Pathographik,hereditärer Belastung, Wahrscheinlichkeitslehre, Statistik, Psychoana-lyse, Experimentalpsychologik und so weiter. Wir suchen die wis-senschaftlichen Elemente der Tat auf; denn alles, was in der Weltgeschieht, geschieht nach Gesetzen. Nach ewigen Gesetzen! Auf ih-nen ruht der Ruf meines Instituts. Ungezählte junge Gelehrte undStudenten arbeiten in meinen Diensten. Ich frage nicht nach läppi-schen Einzelheiten eines Falls; man liefert mir die gesetzlichen Be-stimmungsstücke eines Menschen und ich weiß, was er unter gege-benen Umständen getan haben muß! Die moderne Wissenschaft undDetektivik engt den Bereich des Zufälligen, Ordnungslosen, angeblichPersönlichen immer mehr ein. Es gibt keinen Zufall! Es gibt keineTatsachen! Jawohl! Es gibt nur wissenschaftliche Zusammenhänge ...Gerade in wissenschaftlichen Kreisen erfreut sich mein Institut nochnicht des Verständnisses, das es verdient. Wofür Ihre Hilfe daher ganzunersetzlich wäre, ist: Die Ausbildung der Detektivik als der Lehrevom Leben des überlegenen wissenschaftlichen Menschen. Es ist nurein Detektivinstitut, aber auch sein Ziel ist die wissenschaftliche Ge-staltung des Weltbildes. Wir entdecken Zusammenhänge, wir stellenTatsachen fest, wir drängen auf die Beobachtung der Gesetze ... Meinegroße Hoffnung ist: die statistische und methodische Betrachtung dermenschlichen Zustände, die aus unsrer Arbeit folgt ...

    THOMAS: Mein lieber Freund, Sie sind entschieden zu früh auf dieWelt gekommen. Und mich überschätzen Sie. Ich bin ein Kind dieserZeit. Ich muß mich damit begnügen, mich zwischen die beiden StühleWissen und Nichtwissen auf die Erde zu setzen.

    Robert Musil (1921): DIE SCHWÄRMER

  • Vorwort des Übersetzers

    Bei der Übersetzung dieses Buches traten Probleme auf, die hin undwieder kleinere Abweichungen und Zusätze erforderlich machten. Zum Bei-spiel verwendet der Autor an mehreren Stellen ganz spezifische französischeWortschöpfungen, die einem uneingeweihten Leser kaum etwas sagen, undüber deren Herkunft man auch in größeren Wörterbüchern und Nachschla-gewerken nichts findet. Stellvertretend seien hier die folgenden drei Begriffegenannt: adunation, bottin und barème.

    Unter adunation, einem von Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) ge-prägten Wort, ist die gewollte Vereinheitlichung der Bezugssysteme zu verste-hen, wie sie nach der Französischen Revolution verwirklicht worden ist, um dieeine und unteilbare Nation zu errichten. Diese ”Adunation“ hatte juristische,metrologische und taxonomische Aspekte und schloß die Aufteilung des Ter-ritoriums in Departements sowie die Einführung des metrischen Systems derMaße und Gewichte ein. Die beiden anderen Begriffe leiten sich von Personenab, die durch das Wirken statistischer Prozesse sogar in Frankreich weitgehendder Vergessenheit anheimgefallen sind. Unter bottin versteht man jetzt u.a. einTelefonbuch oder Fernsprechverzeichnis. Diese Bezeichnung wurde zu Ehrenvon Sébastien Bottin geprägt, der 1799 ein politisch-wirtschaftliches Jahrbuch(”Verzeichnis“) herausgab. Das Wort barème bedeutet heute u.a. Tabelle undleitet sich von François Barème ab, einem französischen Rechenmeister des17. Jahrhunderts.

    Bei derartigen Begriffen habe ich zur Erläuterung zusätzliche Fußnoteneingearbeitet. Ähnlicherweise habe ich bei einer Reihe von historischen Be-griffen ergänzende Fußnoten und Bemerkungen eingefügt, zum Beispiel beiAncien Régime, intendant, brumaire, germinal, l’un portant l’autre.

    Bei den Erläuterungen zur Herkunft des Wortes probabilité bezieht sichder Verfasser naturgemäß auf den früheren und auf den jetzigen französischenBedeutungsinhalt dieses Wortes, das lateinischen Ursprungs ist. Im Gegen-satz hierzu hat die deutsche Übersetzung Wahrscheinlichkeit des französischenWortes probabilité einen ganz anderen, nichtlateinischen Ursprung. Diese Tat-sache mußte in die deutsche Übersetzung eingearbeitet werden.

    Das Buch ist 1993 erschienen, die hier übersetzte zweite französische Aus-gabe im Jahr 2000. Wie der Verfasser in seinem Nachwort schreibt, enthältdas ursprüngliche Literaturverzeichnis die zitierten und bis 1992 veröffentlich-ten Arbeiten. In einem zusätzlichen Literaturverzeichnis zur zweiten französi-schen Auflage hat der Autor weitere Arbeiten angegeben, die in den Jahren1992–2000 verfaßt worden sind; im Nachwort geht er kurz auf den Inhaltdieser Arbeiten ein. Im dritten Teil des Literaturverzeichnisses habe ich wei-tere Titel aufgeführt, die für den deutschsprachigen Leser von Interesse sind.Außerdem habe ich ständig wiederkehrende Abkürzungen in einem Anhangzusammengefaßt.

  • VIII

    In Ergänzung zu den Abbildungen von Kapitel 4 ist unten schema-tisch das Galtonsche Brett dargestellt, das auch als Galton-Brett oder alsQuincunx bezeichnet wird.1 Francis Galton, der Erfinder, ließ sich 1873von einem Instrumentenbauer einen Quincunx anfertigen, den man im Gal-ton Laboratory des University College London besichtigen kann. Galtonverwendete dieses Instrument, um bei seinen Untersuchungen über Erb-anlagen die Eigenschaften der Binomialverteilung und der Normalvertei-lung zu verstehen.2 Die nachstehende Abbildung ist eine ”Momentaufnah-me“ eines Java-Applets von Damien Jacomy (Paris), durch das man un-ter http://www-sop.inria.fr/mefisto/java/tutorial1/tutorial1.htmlnach Anklicken von La planche de Galton ein bewegliches Bild erzeugen kann:dabei bewirkt der simulierte Durchlauf der roten Kugeln den schrittweisenAufbau einer Binomialverteilung.

    Der Autor machte mich freundlicherweise auf das obengenannte Java-Applet aufmerksam und sprach sich dafür aus, die Abbildung in dieses Über-setzervorwort aufzunehmen. Das obige Schwarzrotbild veranschaulicht die aufSeite 132 gegebene Beschreibung des Galtonschen Bretts und ergänzt die Ab-bildung des Zwei-Stufen-Quincunx auf Seite 136. Im Java-Applet sieht man1 Für genauere Ausführungen zum Galtonschen Brett und zur Bezeichnung Quin-

    cunx vgl. Kapitel 4 (Francis Galton: Vererbung und Statistik).2 Den Originalentwurf von Galton findet man z.B. in W. Dyck, Katalog mathe-

    matischer und mathematisch-physikalischer Modelle, Apparate und Instrumente.Nebst Nachtrag. Nachdruck der Ausgabe 1892 und des Nachtrags 1893, GeorgOlms Verlag, Hildesheim 1994; Figur 7 auf Seite 6 des Nachtrags).

  • IX

    weitere Farben zur Verdeutlichung des Sachverhalts und bei zunehmenderAnzahl von Versuchen zeichnet sich im Hintergrund die Normalverteilung ab.

    Mein herzlicher Dank gilt Karin Richter (Martin-Luther-Universität Hal-le, Fachbereich Mathematik) für zahlreiche – oder besser gesagt: zahllose –Bemerkungen und für eine nicht ganz zufällige Folge von Konsultationen. Fürkontinuierlichen technischen und TEX-nischen Support danke ich Gerd Richter(Angersdorf) und Frank Holzwarth (Springer-Verlag) ganz besonders. Eben-so bedanke ich mich bei Peggy Glauch und Claudia Rau von der LE-TEXJelonek, Schmidt & Voeckler GbR (Leipzig) für hilfreiche Bemerkungen zurHerstellung der Endfassung für den Druck.

    Wertvolle Hinweise zu sprachlichen, inhaltlichen und sonstigen Fragen er-hielt ich von Gerhard Betsch (Weil im Schönbuch), Corrado Dal Corno (Mai-land), Lorraine Daston (Berlin), Menso Folkerts (München), Walter Hauser(München), Jean-Noël Mesnil (Paris), Bert Scharf (Boston), Veronika Schlüter(Darmstadt), Ivo Schneider (München) und Sylvia Stern (Springe). Für wei-testgehendes Entgegenkommen seitens des Springer-Verlages danke ich UteMcCrory, Angela Schulze-Thomin und ”enfin, tout particulièrement“ MartinPeters.

    Halle an der Saale, Herbst 2004 Manfred Stern

  • Inhaltsverzeichnis

    Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Eine anthropologische Sicht auf die Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 4Beschreibung und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Wie man dauerhafte Dinge macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Zwei Arten der historischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

    1 Präfekten und Vermessungsingenieure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19Deutsche Statistik: Identifizierung der Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22Englische politische Arithmetik: Entstehung der Expertise . . . . . . . . . 26Französische Statistik des Ancien Régime: Intendanten und Gelehrte 30Revolution und Erstes Kaiserreich: Die ”Adunation“ Frankreichs . . . 36Peuchet und Duvillard: schreiben oder rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Wie man Diversität durchdenkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

    2 Richter und Astronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Aleatorische Verträge und faire Abmachungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52Konstruktiver Skeptizismus und Überzeugungsgrad . . . . . . . . . . . . . . . 58Der Bayessche Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Der ”goldene Mittelweg“: Mittelwerte und kleinste Quadrate . . . . . . 70Messungsanpassungen als Grundlage für Übereinkünfte . . . . . . . . . . . 75

    3 Mittelwerte und Aggregatrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Nominalismus, Realismus und statistische Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . 79Das Ganze und seine Trugbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Quetelet und der ”Durchschnittsmensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Konstante Ursache und freier Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88Zwei kontroverse Fälle aus der medizinischen Statistik . . . . . . . . . . . . 93Eine Urne oder mehrere Urnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99Der angefochtene Realismus: Cournot und Lexis . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Durchschnittstyp und Kollektivtyp bei Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . 108Der Realismus der Aggregate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

  • XII Inhaltsverzeichnis

    4 Korrelation und Ursachenrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Karl Pearson: Kausalität, Kontingenz und Korrelation . . . . . . . . . . . . 120Francis Galton: Vererbung und Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127Schwer zu widerlegende Berechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138Fünf Engländer und der neue Kontinent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Kontroversen über den Realismus der Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152Yule und der Realismus der administrativen Kategorien . . . . . . . . . . . 156Epilog zur Psychometrie: Spearman und die allgemeine Intelligenz . 162

    5 Statistik und Staat:Frankreich und Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165Französische Statistik – eine diskrete Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Entwurf und Scheitern eines Einflußnetzwerks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175Statistik und Wirtschaftstheorie – eine späte Verbindung . . . . . . . . . . 182Britische Statistik und öffentliche Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186Sozialenqueten und wissenschaftliche Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . 193

    6 Statistik und Staat:Deutschland und die Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199Deutsche Statistik und Staatenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200Historische Schule und philosophische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206Volkszählungen in der amerikanischen politischen Geschichte . . . . . . 211Das Census Bureau: Aufbau einer Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218Arbeitslosigkeit und Ungleichheit: Die Konstruktion neuer Objekte . 222

    7 Pars pro toto: Monographien oder Umfragen . . . . . . . . . . . . . . 235Die Rhetorik des Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238Halbwachs: Die soziale Gruppe und ihre Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . 243Die Armen: Wie beschreibt man sie und was macht man mit ihnen? 246Von Monographien zu systematischen Stichprobenerhebungen . . . . . 251Wie verbindet man ”was man schon weiß“ mit dem Zufall? . . . . . . . . 257Wohlfahrtsstaat, Inlandsmarkt und Wahlprognosen . . . . . . . . . . . . . . . 258

    8 Klassifizierung und Kodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263Statistik und Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264Die Taxonomien der Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266Die Durkheimsche Tradition: sozio-logische Klassifizierungen . . . . . . 270Die Zirkularität von Wissen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274Gewerbliche Tätigkeiten: instabile Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 277Vom Armen zum Arbeitslosen: Die Entstehung einer Variablen . . . . 283Ein hierarchischer, eindimensionaler und stetiger sozialer Raum . . . . 288Vom Gewerbe zur qualifizierten Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293Vier Spuren der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297Eine Urne oder mehrere Urnen: Taxonomie und Wahrscheinlichkeit . 302Wie man einer Sache Zusammenhalt verleiht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

  • Inhaltsverzeichnis XIII

    9 Modellbildung und Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311Wirtschaftstheorie und statistische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 314Glaubensgrad oder Langzeithäufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317Zufälligkeiten und Regelmäßigkeiten: Frisch und der Schaukelstuhl . 323Mittel gegen die Krise: Das Modell von Tinbergen . . . . . . . . . . . . . . . . 328Ingenieure und Logiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333Über den richtigen Gebrauch der Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336Autonomie und Realismus von Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343Drei Methoden zur Berechnung des Nationaleinkommens . . . . . . . . . . 347Theorien testen oder Diversität beschreiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

    Schlußfolgerung: Das Unbestreitbare in Zweifel ziehen . . . . . . . . . 359Ein zu praktischen Zwecken konstruierter kognitiver Raum . . . . . . . . 360Mittelwerte und Regelmäßigkeiten, Skalen und Verteilungen . . . . . . . 363Ein Raum für Verhandlungen und Berechnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 368Statistische Argumentation und soziale Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

    Nachwort: Wie schreibt man Bücher, die Bestand haben? . . . . . 375Einige zwischen 1993 und 2000 veröffentlichte Arbeiten . . . . . . . . . . . 375Wie verbindet man die Aspekte der Geschichte der Statistik? . . . . . . 378Wie bedienen sich die Sozialwissenschaften dieser Aspekte? . . . . . . . . 380Kritiken und Diskussionsthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

    Anhang: Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

    Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

    Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

  • Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    Arbeitslosigkeit, Inflation, Wachstum, Armut, Fertilität – diese Objekte undihre statistischen Messungen dienen als Anhaltspunkte zur Beschreibung öko-nomischer Situationen, zur Denunziation3 sozialer Ungerechtigkeiten und zurRechtfertigung politischer Aktionen. Diese Anhaltspunkte sind Bestandteilroutinemäßiger Anwendungen, die zur Formung der Realität der beschriebe-nen Landschaft beitragen, indem sie eine stabile und weitgehend akzeptierteSprache liefern, in der sich die Debatte ausdrückt. Aber die Anwendungenimplizieren ein Paradoxon. Die Bezugspunkte, das heißt die Objekte, müssenals unanfechtbar wahrgenommen werden und über dem Streit stehen. Wiealso soll eine Debatte angelegt sein, die sich um genau die obengenanntenObjekte dreht? Fragen dieser Art werden oft im Zusammenhang mit Denun-ziationen aufgeworfen. Lügt die Statistik? Wie groß ist die tatsächliche Anzahlder Arbeitslosen? Welches ist der wahre Fertilitätsrate? Als Bezugspunkte derDebatte sind die betreffenden Messungen ebenfalls Gegenstand der Debatte.

    Die Kontroversen lassen sich in zwei Kategorien einteilen, je nachdem, obsie sich nur auf die Messung beziehen oder ob sie das Objekt selbst betreffen.Im ersten Fall ist die Realität des zu messenden Dings von der Meßtätigkeitunabhängig. Die Realität wird nicht infrage gestellt. Die Diskussion dreht sichum die Art und Weise, in der die Messung erfolgt und um die ”Zuverlässigkeit“des statistischen Prozesses auf der Grundlage der von den physikalischen Wis-senschaften oder von der Industrie gelieferten Modelle. Im zweiten Fall faßtman jedoch die Existenz und die Definition des Objekts als Konventionenauf, über die man diskutieren kann. Die Spannung zwischen diesen beidenStandpunkten – der eine betrachtet die zu beschreibenden Objekte als realeDinge, der andere hingegen als Ergebnis von Konventionen – ist schon seitlangem Bestandteil der Geschichte der Humanwissenschaften, ihrer jeweili-3 Für genauere Ausführungen zur Bedeutung des hier durchgehend verwendeten

    Begriffs”Denunziation“ verweisen wir auf das Buch Homo academicus von Bour-

    dieu, 1988, [357]. (Die Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf das Litera-turverzeichnis am Ende des Buches.)

  • 2 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    gen sozialen Anwendungen und der einschlägigen Debatten. Im vorliegendenBuch analysieren wir die Beziehung zwischen diesen beiden Interpretationen:es ist schwierig, sich gleichzeitig vorzustellen, daß die gemessenen Objektetatsächlich existieren und daß es sich dabei dennoch nur um Konventionenhandelt.

    ”Die erste und grundlegende Regel besteht darin, die sozialen Tatbestände4

    als Dinge zu behandeln“. Mit dieser seiner 1894 aufgestellten Regel der sozio-logischen Methode stellte Durkheim die Sozialwissenschaften in eine Perspek-tive der Objektivierung wie sie für die Naturwissenschaften charakteristischist. Aber die Formulierung ist zweideutig. Die Durkheimsche Regel läßt sichauf zweierlei Weise lesen. Zum einen als Realitätsbestätigung und zum an-deren als methodologische Herangehensweise: ”Die sozialen Tatbestände sindDinge“ oder ”Die sozialen Tatbestände müssen so behandelt werden, als obsie Dinge wären“. Bei der zweiten Lesart liegt die Betonung auf den Wörternbehandeln und als ob. Diese Wörter implizieren eine instrumentalistische Ein-stellung, bei der die Frage nach der Realität der Dinge eine untergeordneteRolle spielt. Hier zählen die Prozedur und die diesbezüglichen Konventionen,mit denen so getan wird ”als ob“.

    Diese Schwierigkeiten ähneln denjenigen, mit denen sich die Erfinder derstatistischen Ausdrucksweisen konfrontiert sahen, welche es uns ihrerseitsermöglichen, die sozialen Tatbestände in Dingen zu konstituieren. Heute stütztsich die Sprache der Statistik auf klar formalisierte synthetische Begriffe: Mit-telwerte, Standardabweichungen, Wahrscheinlichkeit, Äquivalenzklassen, Kor-relation, Regression, Stichproben, Nationaleinkommen, Schätzungen, Tests,Residuen, Maximum-Likelihood-Methode, simultane Gleichungen. Studenten,Forscher oder Anwender von statistischen Daten bekommen kompakte Begrif-fe in die Hand, die in knappe und ökonomische Formeln gegossen sind. DieseWerkzeuge sind jedoch ihrerseits das Ergebnis eines historischen Entstehungs-prozesses, der von Phasen des Zauderns, von Neuübersetzungen und Interpre-tationskonflikten durchsetzt ist. Zur Meisterung dieser Werkzeuge muß sichder Lernende Fragen stellen, die über Jahrzehnte oder sogar Jahrhundertediskutiert worden sind – und er muß diese Fragen in kurzer Zeit beantworten.Die Weiterführung dieser Debatten ist nicht nur das Ergebnis einer gelehr-ten Neugier, die gleichsam als gefühlsmäßige Zulage bei der Aneignung vonformalisierten Techniken in Erscheinung tritt, sondern stellt eine Orientie-rung und eine Hilfe im Prozeß des Lernens und des Verstehens bereit. DieHindernisse, denen sich die Innovatoren von gestern bei der Transformationvon sozialen Tatbeständen in Dinge gegenübergestellt sahen, gleichen denje-nigen Hindernissen, die auch heute noch einen Studenten stören können undzur Erschwerung der gleichzeitigen Vorstellung der beiden Interpretationen– das heißt der realistischen und der nichtrealistischen Interpretation – der4 Der französische Begriff

    ”fait social“ und seine englische Entsprechung

    ”social

    fact“ werden im Deutschen auch durch”soziologischer Tatbestand“ wiedergege-

    ben.

  • Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge 3

    Durkheimschen Regel beitragen. Die Geschichte vermittelt uns ein Verständ-nis dessen, auf welche Weise die sozialen Tatbestände zu Dingen gewordensind – und zwar für jeden, der statistische Techniken anwendet.

    Diese Techniken sollen wissenschaftliche und politische Argumente unter-mauern. Die Entstehungsgeschichte der Techniken ermöglicht es uns, die altenKontroversen und Debatten zurückzuverfolgen und dadurch einen Raum zuskizzieren, in dem die technische Sprache und deren Anwendung in der sozialenDebatte miteinander verknüpft werden. Statistische Argumente können nurdann in eine reflexive Wissenschaftskultur reintegriert werden, wenn wir aufdie Begriffsübertragungen und Debatten zurückkommen und dabei die Pfa-de der Ungewißheit und die Momente der Innovation wiederentdecken. DieseVorgehensweise führt dazu, daß es zu ständig neuen Verbindungen zwischenden alten Schemata kommt.

    Die Werkzeuge der Statistik ermöglichen die Entdeckung oder die Erschaf-fung von Entitäten, auf die wir uns zur Beschreibung der Welt stützen unddabei Einfluß auf den Gang der Dinge nehmen. Von diesen Objekten könnenwir sagen, daß sie gleichzeitig real und konstruiert sind, sobald sie in anderenZusammenhängen wiederholt verwendet werden und unabhängig von ihremUrsprung zirkulieren. Damit teilen diese Objekte das Schicksal zahlreicher an-derer Produkte. Wir rufen die Geschichte und die Soziologie der Statistik aufden Plan, um die Art und Weise zu verfolgen, in der die betreffenden Objek-te geschaffen und wieder abgeschafft werden, wobei man sie zur Förderungvon Wissen und Handeln in eine realistische oder nicht-realistische Rhetorikeinkleidet. In Abhängigkeit vom jeweiligen Fall wird der antirealistische (odereinfach nicht-realistische) Standpunkt als nominalistisch, relativistisch, instru-mentalistisch oder konstruktivistisch bezeichnet. Es gibt zahlreiche möglicheEinstellungen in Bezug auf wissenschaftliche (insbesondere statistische) Kon-struktionen. Die Auffassungen unterscheiden sich häufig sowohl in theoreti-scher als auch in praktischer Hinsicht. Dieser Umstand legt es nahe, nichtPartei für eine dieser Einstellungen zu ergreifen, um die anderen zu denunzie-ren. Vielmehr kann es sich als fruchtbarer erweisen, diejenigen Umstände zuuntersuchen, unter denen sich jede der genannten Sichtweisen auf kohärenteWeise in ein allgemeines Gefüge, in ein Netz von Aufzeichnungen einordnenläßt.

    Die Frage nach der Realität hängt mit der Solidität dieses Netzes und des-sen Widerstandsfähigkeit gegenüber Kritik zusammen. Je umfassender unddichter dieses Netz ist, desto realer ist es. Die Wissenschaft ist ein unermeßli-ches und unermeßlich reales Netz. Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistiksind wesentliche Werkzeuge zur Auffindung, zur Konstruktion und zum Beweiswissenschaftlicher Fakten – sowohl in den Naturwissenschaften als auch in denSozialwissenschaften. Nehmen wir die realistische und die nicht-realistischeEinstellung in Bezug auf die statistischen Techniken gleichermaßen ernst, dannbesteht die Möglichkeit, eine größere Vielfalt von Situationen zu beschreiben– auf jeden Fall aber sind wir dann dazu in der Lage, überraschendere Ge-

  • 4 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    schichten zu erzählen, als wenn wir eine Erzählungsform gewählt hätten, dieden einen oder den anderen Standpunkt bevorzugt.

    Eine anthropologische Sicht auf die Wissenschaften

    Als Untersuchungsobjekt nehmen wir uns diejenigen Praktiken vor, die Wis-senschaft und Handeln in besonders spezifischer Weise miteinander verbinden.Dabei werden wir nicht aufzeigen, wie diese Interaktion beschaffen sein sollte,sondern wie sie – historisch und sozial – gewesen ist. Zu diesem Zweck müssenwir Debattenkontexte und alternative oder konkurrierende Sprech- und Ver-fahrensweisen rekonstruieren. Darüber hinaus müssen wir in den sich mit derZeit ändernden Kontexten auch Bedeutungsverschiebungen und Neuinterpre-tationen von Objekten verfolgen. Auf diesem Untersuchungsgebiet geht es umdie Interaktion zwischen der Welt des Wissens und der Welt der Macht, zwi-schen Beschreibung und Entscheidung, zwischen ”es gibt“ und ”wir müssen“ –und genau aus diesem Grund besteht eine besondere Beziehung zur Geschich-te, eine Beziehung, die der Forschungstätigkeit zeitlich vorausgeht. Man kannsich auf die Geschichte berufen, um eine Tradition Wurzeln schlagen zu lassen,um die Schilderung der Gründung einer Gemeinschaft zu pflegen und um dieIdentität dieser Gemeinschaft zu bekräftigen. Die Geschichte kann aber auchzu polemischen Zwecken in Momenten oder Situationen eines Konflikts odereiner Krise angerufen werden, um irgendeinen verborgenen Aspekt zu denun-zieren. Diese beiden Möglichkeiten, sich auf die Geschichte zu berufen, könnenals einseitig oder partiell bezeichnet werden, denn sie sind an den jeweiligenIntentionen ausgerichtet und werden in diesem Sinne geformt – im vorliegen-den Fall durch die Absicht, eine Identität zu bestätigen oder zu denunzieren.Dennoch ist es nicht möglich, die betreffenden Darstellungen in umfassenderWeise zu behandeln, denn sie sind immer viel zahlreicher und vielgestaltiger,als wir es uns vorstellen können.

    Andererseits können wir die Debattenräume und die Spannungslinien re-konstruieren, an denen sich unterschiedliche Ansichten positionierten und mit-einander vermischten. Das schließt die Rekonstruktion dieser Ansichten mitHilfe eines Vokabulars ein, das der Terminologie der Akteure ähnelt, wobeidieses Vokabular gleichzeitig objektiviert, das heißt zum Vorschein gebrachtwird. Beispielsweise erwähnen wir, wie sich eine um ihre Tradition bemühteGemeinschaft auf die Geschichte beruft. Man hätte auch von ”Selbstzelebrie-rung“ oder von einem ”apologetischen Diskurs“ sprechen können. Ich habejedoch den Begriff ”Identitätsbestätigung“ bevorzugt, denn das ist die Bedeu-tung, welche die Akteure diesem historischen Brauch gegeben haben. DieseVerwendungsweise bildet – ebenso wie der polemische Sprachgebrauch – dasMaterial für die gewünschte anthropologische Rekonstruktion. Es geht nichtmehr darum, ob eine Schilderung wahr ist, sondern es geht um den Platz, dendiese Schilderung unter zahlreichen anderen einnimmt.

  • Eine anthropologische Sicht auf die Wissenschaften 5

    Es besteht die Gefahr, im Überfluß dieser Schilderungen unterzugehen. Diehier folgende Darstellung ist nicht linear geordnet, wie es bei der Geschichteder aufgeklärten, über die Finsternis triumphierenden Wissenschaft der Fallist. Bei der linearen Darstellungsweise erscheint die Beschreibung der Ver-gangenheit als Sortierverfahren, das bereits vorhandene Dinge von noch nichtexistierenden Dingen trennt, oder aber als Methode, mit deren Hilfe man nachVorgängern sucht. Anstelle der Definition einer unzweideutigen Richtung desFortschritts durch Ordnen und Beschreiben sukzessiver Konstrukte gebe ichin der Einleitung einige Spannungslinien an, die in der einen oder anderenWeise zur Strukturierung der aufgetretenen Debatten geführt haben. Zu be-achten ist, daß die Gegensätze im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfensind. Es handelt sich dabei häufig um Rückübersetzungen oder Metamorpho-sen der jeweiligen Begriffe: Beschreibung und Entscheidung, objektive undsubjektive Wahrscheinlichkeiten, Frequentismus und Epistemismus, Realis-mus und Nominalismus, Meßfehler und natürliche Streuung. Es ist jedoch keinvollständiges Verständnis der in dieser Einleitung genannten Themen erfor-derlich, um die nachfolgenden Kapitel zu lesen. Ich versuche hier einfach nur,einen Zusammenhang zwischen scheinbar disparaten Elementen von Schilde-rungen herzustellen und wende mich dabei an Leser, die einen gleichermaßenvielfältigen kulturellen Hintergrund haben. Die Diversität, die das Unterfan-gen so schwierig macht, hängt mit dem Stellenwert der statistischen Kulturin der wissenschaftlichen Kultur und dem Stellenwert der wissenschaftlichenKultur in der allgemeinen Kultur zusammen. Diese Diversität ist Bestandteildes hier zu untersuchenden Objekts.

    Die Geschichte und die Soziologie der Wissenschaften werden seit langemvon zwei extrem unterschiedlichen – wenn nicht gar konträren – Standpunktenaus untersucht, die man als ”internalistisch“ bzw. ”externalistisch“ bezeich-net. Der internalistische Standpunkt besagt, daß es sich um die Geschichtedes Wissens handelt, um die Geschichte der Instrumente und der Resulta-te, um die Geschichte der Sätze und ihrer Beweise. Diese Geschichte wirdvon den Spezialisten der jeweiligen Disziplinen geschrieben (das heißt vonPhysikern, Mathematikern u.a.). Im Gegensatz hierzu geht es beim externa-listischen Standpunkt um die Geschichte der sozialen Bedingungen, die denLauf der erstgenannten Geschichte ermöglicht oder auch erschwert haben:Labors, Institutionen, Finanzierungen, individuelle wissenschaftliche Karrie-ren und Beziehungen zur Industrie oder zur Staatsmacht. Diese Geschich-te wird üblicherweise von Historikern und von Soziologen geschrieben. DieBeziehungen zwischen der internalistischen und der externalistischen Auffas-sung sind Gegenstand zahlreicher Debatten und blicken ihrerseits auf einekomplexe Geschichte zurück (Pollak, 1985, [235]). In den 1950er und 1960erJahren predigte beispielsweise Merton eine deutliche Aufgabentrennung. Eruntersuchte die normalen Funktionsregeln einer effizienten Wissenschaftsge-meinde: Professionalisierung, Institutionalisierung und Forschungsautonomie,

  • 6 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    Rivalität zwischen den Forschern, Transparenz der Ergebnisse, Beurteilungendurch Peergruppen5.

    Mit Beginn der 1970er Jahre stellte man diese Arbeitsteilung sowohl inGroßbritannien (Bloor, 1982, [17]) als auch in Frankreich (Callon, 1989, [42];Latour, 1989, [167]) infrage. Das ”starke Programm“ dieser Autoren richtetedas Scheinwerferlicht auf die ”im Entstehen begriffene“ Wissenschaft. Dabeiwurde die Gesamtheit der praktischen wissenschaftlichen Operationen berück-sichtigt, einschließlich der Operationen innerhalb eines Labors. Diese Opera-tionen werden durch die Registrierung und Konsolidierung von Objekten unddurch die Schaffung immer umfassenderer und dauerhafterer Netze von Alli-anzen beschrieben – Allianzen, die zwischen den Objekten und den Menschengeschmiedet werden. Aus dieser Sicht verschwindet der Unterschied zwischentechnischen und sozialen Objekten, welcher der Trennung zwischen interna-listischer und externalistischer Geschichtsauffassung zugrunde liegt, und dieSoziologie untersucht die Gesamtheit der betreffenden Objekte und Netze.Insbesondere in wissenschaftlichen Kreisen hat diese Forschungslinie einigeAutoren vor den Kopf gestoßen: sie zeichnet sich nämlich u.a. dadurch aus,daß sie die Frage nach der Wahrheit als nachgeordnet betrachtet. Bei der imEntstehen begriffenen Wissenschaft (hot science) ist die Wahrheit noch einStreitobjekt, ein Debattengegenstand. Nur allmählich, wenn sich die Wissen-schaft wieder ”abkühlt“, werden gewisse Ergebnisse durch ”Einkapselung“ zu

    ”anerkannten Tatsachen“, während andere gänzlich verschwinden.Dieses Programm hat Anlaß zu Mißverständnissen gegeben. Positioniert

    man nämlich die Frage nach der Wahrheit dermaßen außerhalb des jeweiligenGebietes und favorisiert man auf diese Weise die Analyse derjenigen sozia-len Mechanismen, die dem Kampf um die Überführung gewisser Resultatein anerkannte Fakten zugrundeliegen, dann hat es den Anschein, als negie-re man die Möglichkeit einer Wahrheit überhaupt und bevorzuge stattdesseneine Art Relativismus, bei dem alles zu einer Frage der Meinung oder desKräfteverhältnisses wird. Die Richtung des Programms ist jedoch subtiler.Denn der Durkheimsche Wahlspruch ”Man muß die sozialen Tatbestände alsDinge behandeln“ darf nicht nur als Realitätsaussage aufgefaßt werden, son-dern ist auch als methodologische Entscheidung anzusehen. Wir können dieserForschungslinie auch folgen, um andere Dinge aufzuzeigen. Auf dem Gebietder Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik, wo sich schon immer dieProbleme des Staates und der Entscheidungsfindung mit den Problemen desWissens und der Erklärung vermischt haben, drängt sich die Herausforderungeines Programms, das über die Trennung zwischen ”internalistischer“ und ”ex-5 Unter Peergruppe (engl. peer group) ist hier eine

    ”Gleichrangigengruppe“ zu ver-

    stehen.

  • Beschreibung und Entscheidung 7

    ternalistischer“ Geschichte hinausgeht, sogar noch zwingender auf, als es inder theoretischen Physik und in der Mathematik der Fall ist.6

    Beschreibung und Entscheidung

    Die Spannung zwischen diesen beiden Standpunkten, das heißt zwischen demdeskriptiven und dem präskriptiven Standpunkt, kann in einer Geschichteder Wahrscheinlichkeitsrechnung und der statistischen Techniken als Triebfe-der der Schilderung verwendet werden. Die Rationalität einer Entscheidung– ganz gleich, ob sie individuell oder kollektiv getroffen wird – hängt mit derFähigkeit zusammen, auf Dingen aufzubauen, die eine stabile Bedeutung ha-ben: dadurch wird es möglich, Vergleiche durchzuführen und Äquivalenzenaufzustellen. Diese Forderung gilt gleichermaßen für jemanden, der die zeit-liche Kontinuität seiner Identität garantieren möchte (zum Beispiel bei derÜbernahme von Risiken, beim Verleihen von Geld gegen Zinsen, bei Versiche-rungen und bei Wetten), wie auch für Personen, die – ausgehend vom gesundenMenschenverstand und von objektiven Gegebenheiten – all das konstruierenmöchten, was die Garantie einer sozialen Existenz ermöglicht, die über dieindividuellen Kontingenzen hinausgeht. Eine Beschreibung läßt sich also miteiner Geschichte vergleichen, die von einer Person oder von einer Gruppe vonPersonen erzählt wird – mit einer hinreichend stabilen und objektivierten Ge-schichte, die sich unter anderen Umständen erneut und insbesondere dazuverwenden läßt, Entscheidungen zu untermauern, die man für sich selbst oderfür andere trifft.

    Das galt bereits für Beschreibungsformen, die allgemeiner waren als die-jenigen, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert aus den Techniken derWahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik entwickelt hatten: zum Bei-spiel für Beschreibungen, die auf einem theologischen Fundament ruhten. Mitder Gründung wissenschaftlicher Akademien, mit dem Auftreten professionel-ler Gelehrter und mit der Durchführung von reproduzierbaren – und somitvom Experimentator unabhängigen – Versuchen entstand im 17. Jahrhunderteine neue Art von Objektivität. Diese Objektivität hing mit der sozialen undargumentativen Autonomie eines neuen Beschreibungsraumes zusammen, dendie Wissenschaft liefert. Die Sprache der Wissenschaft stützt ihre Originalitätauf ihre Unabhängigkeit von anderen Sprachen – den Sprachen der Religion,des Rechts, der Philosophie und der Politik – und hat deswegen eine wi-dersprüchliche Beziehung zu diesen Sprachen. Die Sprache der Wissenschaftmacht einerseits eine Objektivität und somit eine Universalität geltend, die –falls dieser Anspruch erfolgreich durchgesetzt wird – auch Anhaltspunkte undallgemeine Bezugspunkte für die Debatte über andere Räume bereitstellt: das6 Aber nicht alle Forscher treffen diese Wahl. Zum Beispiel ist das ungemein nütz-

    liche Werk von Stephen Stigler (1986, [267]) zur Geschichte der mathematischenStatistik des 19. Jahrhunderts hauptsächlich internalistisch angelegt.

  • 8 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    ist der Aspekt der ”unanfechtbaren Wissenschaft“. Andererseits kann dieseAutorität, die ihre Berechtigung im eigentlichen Prozeß der Objektivierungund in ihren strikten Forderungen nach Universalität findet, nur dann aus-geübt werden, wenn sie Bestandteil der Gesamtheit der Handlungen, der Ent-scheidungen und der Transformationen der Welt ist. Diese Autorität ist derMotor des Prozesses – und sei es nur durch die zu lösenden Fragen, durch diemit diesen Fragen zusammenhängenden mentalen Strukturen und durch diemateriellen Mittel zur dauerhaften Erfassung neuer Dinge in übertragbarenFormen.

    Es geht also nicht darum, zu wissen, ob man sich eine reine – das heißt einevon ihren ”unreinen“ Anwendungen autonomisierte – Wissenschaft schlicht-weg vorstellen kann, und sei es nur als ein unerreichbares Ideal. Vielmehrgeht es um die Untersuchung der Art und Weise, in der die zwischen demObjektivitäts- und Universalitätssanspruch und dem festen Zusammenhangzum Handlungsuniversum bestehende Spannung die Quelle für die eigentlicheDynamik der Wissenschaft und für die Transformationen und Rücküberset-zungen ihrer kognitiven Schemata und ihres technischen Instrumentariumsdarstellt. In der Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Stati-stik, die nacheinander mit der ”Zähmung“ von Risiken, der Verwaltung vonStaaten, der Beherrschung der biologischen und ökonomischen Reproduktionvon Gesellschaften, aber auch mit der Kontrolle der militärischen und admini-strativen Tätigkeiten zusammenhing, wimmelt es von Beispielen für derartigeTransformationen. Im Falle der Wahrscheinlichkeitsrechnung haben wir denÜbergang vom Begriff des ”Glaubensgrundes“ zum Begriff des ”Häufigkeitsli-mits bei einer größeren Anzahl von Ziehungen“ (Kapitel 2); im Falle der sta-tistischen Techniken stellen wir die Rückübersetzung der Interpretation vonMittelwerten und der Methode der kleinsten Quadrate fest – von der Feh-lerrechnung in der Astronomie und dem ”Durchschnittsmenschen“ (hommemoyen) von Quetelet (Kapitel 3) bis hin zur Vererbungsanalyse von Pearsonund zur Armutsanalyse von Yule (Kapitel 4).

    Die komplexe Verbindung zwischen dem präskriptiven und dem deskripti-ven Standpunkt kommt besonders deutlich in der Geschichte der Wahrschein-lichkeitsrechnung zum Ausdruck, wo man dem immer wiederkehrenden Ge-gensatz zwischen subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit begegnet. Ineiner anderen Terminologie ist es der Widerspruch zwischen epistemischerund frequentistischer Wahrscheinlichkeit (Hacking, 1975, [117]). Aus ”episte-mischer“ Sicht handelt es sich um einen Glaubensgrad. Die Ungewißheit derZukunft und die Unvollständigkeit unseres Wissens über das Universum impli-zieren Wetten über die Zukunft und über das Universum. Die Wahrscheinlich-keitsrechnung gibt rationalen Menschen Verhaltensregeln in die Hand, wennInformationen fehlen. Aus ”frequentistischer“ Sicht liegen dagegen Diversitätund Zufall in der Natur selbst begründet und sind nicht einfach nur das Er-gebnis unvollständigen Wissens. Es handelt sich um externe, vom Menschenunabhängige Faktoren, die zum Wesen der Dinge gehören. Der Wissenschaftkommt die Aufgabe zu, die beobachteten Häufigkeiten zu beschreiben.

  • Beschreibung und Entscheidung 9

    Die beiden Wahrscheinlichkeitsauffassungen sind durch zahlreiche Kon-struktionen miteinander verknüpft worden. Zunächst gibt es, beginnend mitJakob Bernoulli (1713), unterschiedliche Formulierungen des ”Gesetzes dergroßen Zahlen“. Dieses Gesetz ist der Grundpfeiler, der die beiden Standpunk-te miteinander verbindet – unter dem wichtigen Vorbehalt, daß sich zufälligeEreignisse unter identischen Bedingungen beliebig reproduzieren lassen (zumBeispiel ”Kopf oder Zahl“ beim Werfen einer Münze oder die ”Augen“ beiWürfelspielen). Das ist jedoch nur ein äußerst geringer Teil der Situationen,deren Ausgang ungewiß ist. In anderen Situationen führt der Satz von Bayes(1765, [10]), der die partiellen Informationen beim Auftreten einiger wenigerEreignisse mit der Hypothese einer ”A-priori -Wahrscheinlichkeit“ verknüpft,zu einer besser gesicherten ”A-posteriori -Wahrscheinlichkeit“, welche die Ra-tionalität einer Entscheidung erhöht, die auf einem unvollständigen Wissenberuht. Die vom Standpunkt der Verhaltensrationalisierung plausible (epi-stemische) Argumentation ist aus deskriptiver (frequentistischer) Sicht nichtmehr plausibel, bei der eine ”A-priori -Wahrscheinlichkeit“ keine Grundlagehat. Diese Spannung zieht sich durch die gesamte Geschichte der Statistikund ist der Dreh- und Angelpunkt für den Gegensatz zwischen den beidenAuffassungen: in dem einen Fall ”veranlaßt man“ etwas, da eine Entschei-dung getroffen werden muß; im anderen Fall gibt man sich nicht mit einerungerechtfertigten Hypothese zufrieden, die nur als Anleitung zum Handelngedacht ist.

    Die Diskussion über den Wissensstand, der von den ab Mitte des 19. Jahr-hunderts gegründeten statistischen Bureaus akkumuliert wurde, hängt eben-falls mit der Spannung zwischen den beiden Auffassungen – das heißt zwischendem präskriptiven und dem deskriptiven Standpunkt – zusammen. Die admi-nistrative Produktionstätigkeit statistischer Information befand sich von ihrenfrühesten Ursprüngen an – aufgrund ihrer Ansprüche, ihrer Funktionsregelnund wegen ihrer öffentlich angekündigten Finalität – in einer ungewöhnlichenPosition: sie kombinierte die Normen der Welt der Wissenschaft mit denendes modernen, rationalen Staates, also mit Normen, die sich auf die Bedienungdes allgemeinen Interesses und der Effizienz konzentrieren. Die Wertesystemedieser beiden Welten sind nicht antinomisch, unterscheiden sich aber dennochvoneinander. Die Ämter für öffentliche Statistik kombinieren in subtiler Weisediese beiden Autoritätstypen, die von der Wissenschaft und vom Staat getra-gen werden (Kapitel 1, 5 und 6).

    Wie die Etymologie des Wortes zeigt, hängt die Statistik mit dem Aufbaudes Staates, mit dessen Vereinheitlichung und seiner Verwaltung zusammen.All das beinhaltet die Aufstellung von allgemeinen Formen, Äquivalenzklassenund Nomenklaturen, die über die Singularitäten der individuellen Situationenhinausgehen – sei es durch die Kategorien des Rechts (juristischer Standpunkt)oder durch Normen und Standards (Standpunkt der Verwaltungsökonomieund der wirtschaftlichen Effektivität). Der Kodierungsvorgang, bei dem ei-ne Zuordnung von Einzelfällen zu Klassen erfolgt, ist eines der wesentlichenMerkmale des Staates, die er durch und über seine Behörden zum Ausdruck

  • 10 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    bringt. Beide Vorgänge, das heißt die Definition von Äquivalenzklassen und dieKodierung, sind die konstituierenden Schritte der statistischen Arbeit (Kapitel8). Diese Arbeit ist nicht nur ein Nebenprodukt der Verwaltungstätigkeit zumZweck des Wissenserwerbs, sondern wird auch direkt durch diese Tätigkeitkonditioniert, wie man anhand der Geschichte der Zählungen, Stichprobener-hebungen (Kapitel 7), Indizes und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungerkennt – alles untrennbar miteinander verbundene Erkenntnis- und Entschei-dungsinstrumente.

    Der Zusammenhang zwischen Beschreibung und Verwaltung kommt deut-lich zum Vorschein, wenn mehrere Staaten – wie es heute in der EuropäischenUnion der Fall ist – ihre Steuergesetzgebung, Sozialgesetzgebung und Wirt-schaftsgesetzgebung harmonisieren, um den freien Verkehr von Menschen,Gütern und Kapital zu ermöglichen. Ein Vergleich der statistischen Systemebringt zahlreiche Unterschiede an den Tag, deren Harmonisierung eine gewal-tige Arbeit bedeutet, die mit dem Aufwand zur Vereinheitlichung der Ge-setzesvorschriften, Normen und Standards verglichen werden kann. Die Kon-struktion eines politischen Raumes impliziert und ermöglicht die Schaffungeines einheitlichen Meßraumes, in dem man die Dinge vergleichen kann, weildie Kategorien und die Kodierungsverfahren identisch sind. So war die Arbeitan der Standardisierung des Territoriums eine der wesentlichen Aufgaben derFranzösischen Revolution von 1789 mit ihrem einheitlichen System der Maßeund Gewichte, mit der Aufteilung des Territoriums in Departements, mit derSchaffung eines säkularen Zivilstaates und eines Bürgerlichen Gesetzbuches.

    Wie man dauerhafte Dinge macht

    Die moderne Statistik ist das Ergebnis der Vereinigung wissenschaftlicherund administrativer Praktiken, die ursprünglich weit voneinander entferntwaren. In diesem Buch versuche ich, Schilderungen miteinander zu verbinden,die üblicherweise getrennt voneinander behandelt werden: die technische Ge-schichte der kognitiven Schemata sowie die Sozialgeschichte der Institutionenund der statistischen Quellen. Der Faden, der diese Schilderungen miteinan-der verknüpft, ist die – in einem kostspieligen Investitionsprozeß verlaufende– Herstellung von technischen und sozialen Formen, die einen Zusammenhaltunterschiedlicher Dinge ermöglichen und dadurch Dinge anderer Ordnung her-vorbringen (Thévenot, 1986, [273]). Ich gebe im Folgenden eine schematischeZusammenfassung dieser Forschungslinie, die im vorliegenden Buch entwickeltwird.

    In den beiden scheinbar voneinander verschiedenen Gebieten der Geschich-te des wahrscheinlichkeitstheoretischen Denkens und der Verwaltungsstatistikhat man die Ambivalenz einer Arbeit betont, die gleichzeitig auf Wissen undHandeln, auf Beschreiben und Vorschreiben ausgerichtet ist. Es geht hierbeium zwei verschiedene Aspekte, die einander bedingen, und es ist unbedingtnotwendig, zwischen beiden zu unterscheiden: weil das Objektivierungsmo-

  • Wie man dauerhafte Dinge macht 11

    ment autonomisierbar ist, kann das Handlungsmoment auf festgefügten Ob-jekten aufbauen. Der Zusammenhang, der die Welt der Wissenschaft mit derWelt der Praxis verbindet, ist demnach die Objektivierungsarbeit, das heißtdie Erzeugung von Dingen, die dauerhaft sind – entweder weil man sie vorher-sehen kann oder weil ihre Unvorhersehbarkeit dank der Wahrscheinlichkeits-rechnung in gewissem Grad beherrschbar ist. Dieser Umstand macht die Be-ziehung verständlich, die zwischen der Wahrscheinlichkeitsrechnung – mit deneinschlägigen Überlegungen zu Glücksspielen7 und Wetten – und den makro-skopischen Beschreibungen der Staatsstatistiken besteht. Beide Bereiche ha-ben sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Zeit immer wieder überschnittenund berührt; zu anderen Zeiten wiederum strebten sie auseinander. Bereits im18. Jahrhundert kam es zu einer Überschneidung, als die Sterbetafeln zum Be-zugsrahmen für Versicherungssysteme wurden; ein anderes Beispiel sind dieBevölkerungsschätzungen des französischen Königreichs durch Laplace, dervon einer ”Stichprobe“ ausging, die sich auf einige Kirchengemeinden bezog(Kapitel 1).

    Die umfassende Verbreitung des Arguments, das den wahrscheinlichkeits-theoretischen Diskurs mit statistischen Beobachtungen verbindet, war jedochdas Verdienst von Quetelet in den 1830er und 1840er Jahren. Mit dem Begriffdes Durchschnittsmenschen stellte das Queteletsche Konstrukt einen Zusam-menhang zwischen dem zufälligen, unvorhersehbaren Aspekt des individuellenVerhaltens und der Regelmäßigkeit – also auch der Vorhersehbarkeit – derstatistischen Totalisierung8 der individuellen Handlungen her. Das Konstruktstützt sich einerseits auf die Allgemeingültigkeit der Gaußschen Wahrschein-lichkeitsverteilung (das heißt des künftigen ”Normalgesetzes“) und anderer-seits auf die Reihen der ”Moralstatistik“ (Heiraten, Verbrechen, Selbstmorde),die von den statistischen Bureaus erstellt wurden. Diese Argumentation ließdas wahrscheinlichkeitstheoretische Denken für lange Zeit von seiner subjek-tiven, epistemischen Seite (Stichwort: ”Glaubensgrund“) in Richtung seinerobjektiven, frequentistischen Seite ausschlagen: im Gegensatz zum Chaos undzur Unvorhersehbarkeit der individuellen Handlungen lieferte die statistischeRegelmäßigkeit von Mittelwerten ein extrem leistungsstarkes Objektivierungs-instrument. Kapitel 3 ist der Analyse dieses wesentlichen Ansatzes gewidmet.

    Die durch die Berechnung von Mittelwerten erzeugten Dinge sind mit ei-ner Stabilität ausgestattet, welche die Anforderungen und die Methoden derNaturwissenschaften in den Humanwissenschaften einführt. Man kann denEnthusiasmus verstehen, den diese Möglichkeit zwischen 1830 und 1860 unterdenjenigen Akteuren auslöste, die statistische Bureaus gründeten und inter-7 Der Zufall ist in allen Glücksspielen der bestimmende Faktor und es sei hier daran

    erinnert, daß”hasard“ das französische Wort für

    ”Zufall“ ist und daß

    ”Glücks-

    spiel“ auf Französisch”jeu de hasard“ (

    ”Hasardspiel“) heißt. Das Wort

    ”Hasard“

    ist über das Französische ins Deutsche gekommen und geht letztlich auf das ara-bische

    ”az-zahr“ zurück, was

    ”Spielwürfel“ bedeutet (vgl. Osman [420]).

    8 Unter”Totalisierung“ ist hier die

    ”Zusammenfassung unter einem Gesamtaspekt“

    zu verstehen.

  • 12 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    nationale Kongresse organisierten, um die neue, universelle Sprache zu propa-gieren und die Registrierungsverfahren9 zu vereinheitlichen. Die Objektivie-rungsarbeit liefert dauerhafte Dinge, auf denen die Verwaltung der sozialenWelt beruht. Und die Objektivierungsarbeit ist das Ergebnis der Vereinigungzweier unterschiedlicher Universen. Einerseits zielt das wahrscheinlichkeits-theoretische Denken auf die Beherrschung der Unsicherheit ab. Andererseitsgestattet die Konstruktion administrativer und politischer Äquivalenzräume,eine große Anzahl von Ereignissen auf der Grundlage von Standardnormenaufzuzeichnen und zusammenzufassen. Ein Ergebnis dieses Vereinigungspro-zesses ist die Möglichkeit, repräsentative Stichproben aus Urnen zu ziehen, umsozioökonomische Phänomene auf der Grundlage von Stichprobenerhebungenkostengünstiger zu beschreiben. Man verwendete politisch konstruierte Äqui-valenzräume in der Praxis, bevor sie zu einem kognitiven Mittel wurden. Ausdiesem Grund konnten wahrscheinlichkeitstheoretische Verfahren der Ziehungvon Kugeln aus Urnen überhaupt erst entworfen und angewendet werden. Be-vor man die Kugeln ziehen konnte, mußten die Urne und auch die Kugeln ersteinmal konstruiert werden. Darüber hinaus mußten die Nomenklaturen unddie Verfahren zur Klassifizierung der Kugeln geschaffen werden.

    Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Objektivierungsarbeitermöglichte es, die in der Wissenschaftssoziologie klassische Debatte zwischenden Objektivisten und den Relativisten zu beenden. Für die Objektivistenexistieren die Objekte und die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, dieStruktur dieser Objekte zu klären. Für die Relativisten sind die Objekte dasErgebnis einer von den Wissenschaftlern bewirkten Formgebung – andereFormgebungen würden zu anderen Objekten führen. Falls nun eine Konstruk-tion tatsächlich auftritt, dann ist sie Bestandteil des sozialen und historischenProzesses, über den die Wissenschaft Rechenschaft ablegen muß. Der Umfangder in der Vergangenheit durchgeführten Forminvestition ist der entscheiden-de Faktor, der die Solidität, die Dauerhaftigkeit und den Gültigkeitsraum derso konstruierten Objekte konditioniert. Die Bedeutung dieses Begriffes be-steht genau darin, die beiden Aspekte – das heißt den ökonomischen und denkognitiven Aspekt – durch die Konstruktion eines Systems von Äquivalenzenzu approximieren. Die Stabilität und die Permanenz der kognitiven Formenhängen (in einem allgemeinen Sinne) vom Umfang der Investition ab, die dieseFormen hervorgebracht hat. Diese Beziehung ist von erstrangiger Wichtigkeit,wenn man die Konstruktion eines statistischen Systems aufmerksam verfolgt(Héran, 1984, [130]).

    Die Konsistenz der Objekte wird mit Hilfe von statistischen Technikengetestet, die aus Wahrscheinlichkeitsmodellen hervorgegangen sind. Der Sta-tus derartiger Objekte ist Gegenstand von Debatten und die Wahlmöglichkeit9 Im französischen Text ist hier von

    ”méthodes d’enregistrement“ die Rede. In

    diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß die Registrierbehörde in Frankreich denNamen

    ”l’Enregistrement“ trägt; bei dieser Behörde müssen rechtlich wichtige

    Verhältnisse registriert werden.

  • Wie man dauerhafte Dinge macht 13

    zwischen der epistemischen oder frequentistischen Interpretation dieser Mo-delle – ausgedrückt durch die Rationalisierung einer Entscheidung oder durcheine Beschreibung – bleibt offen. Die Wahl einer Interpretation ist nicht dasErgebnis einer philosophischen Debatte über das Wesen der Dinge, sondernvielmehr das Ergebnis des Gesamtkonstruktes, in dem das Modell seinen Platzfindet. Es ist normal, daß die Akteure im täglichen Leben so argumentieren, alsob die Objekte existierten; denn einerseits sorgt die vorhergehende Konstruk-tionsarbeit im betrachteten historischen Handlungsraum für die Existenz derObjekte und andererseits würde eine andere Sichtweise jegliche Einwirkungauf die Welt verbieten.

    Ebenso handelt es sich bei der Praxis der statistischen Anpassungen – diedarauf abzielt, die Parameter eines Wahrscheinlichkeitsmodells so zu berech-nen, daß das beibehaltene Modell dasjenige ist, das den beobachteten Resul-taten die größtmögliche Mutmaßlichkeit verleiht – um eine Art und Weise,beide Interpretationen offen zu lassen. Die Berechnung eines arithmetischenMittels, das zur Maximierung der Glaubwürdigkeit eines Objekts führt, kannals tatsächlicher Nachweis der Existenzberechtigung dieses Objekts aufgefaßtwerden – mit Abweichungen, die man als Fehler behandelt (von Queteletvertretene frequentistische Auffassung) – oder aber als Möglichkeit, die Be-obachtungen zur Entscheidungsoptimierung zu verwenden (epistemische Auf-fassung), wobei die Abweichungen als Streuung interpretiert werden.

    Die Existenz eines Objekts ist das gleichzeitige Ergebnis eines sozialenAufzeichnungs- und Kodierungsverfahrens und eines kognitiven Formgebungs-verfahrens, mit dem die Multiplizität auf eine kleine Anzahl von Merkma-len reduziert wird, die man aus frequentistischer Sicht als Objektmerkmaleund aus epistemischer Sicht als Modellparameter bezeichnet. Trotz der Vor-kehrungen, die ein guter Statistikdozent treffen muß, um seinen Studentendie verschiedenen möglichen Festlegungen eines Wahrscheinlichkeitsmodellszu vermitteln, gleiten der übliche Sprachgebrauch und die sozialen Anwen-dungen dieser Methoden häufig von einer Interpretation zur anderen, ohneüberhaupt darauf zu achten. Die Wahl hängt mit der Konsistenz einer um-fassenden Argumentation zusammen, bei der die statistischen Hilfsmittel einElement darstellen, das sich mit anderen rhetorischen Hilfsmitteln verbindet.In Abhängigkeit vom jeweiligen Fall ist die Existenz eines Objekts normalund notwendig, oder aber man kann und muß sich die Konstruktion diesesObjekts ins Gedächtnis rufen. Diese Ambivalenz ist unvermeidlich, denn mankann das Objekt nicht von seiner Anwendung trennen.

    Die Frage nach der Konsistenz und Objektivität von statistischen Messun-gen wird häufig gestellt. Mit der hier vorgeschlagenen Auffassung beabsichtigeich, das stets wiederkehrende Dilemma zu vermeiden, dem sich der ”Zahlen-konstrukteur“ ausgesetzt sieht, wenn er seiner Aufgabe vollständig gerechtwerden will. Einerseits stellt er klar, daß die Messung von den Konventionenabhängt , die in Bezug auf die Objektdefinition und die Kodierungsverfahrengetroffen werden. Aber andererseits fügt er hinzu, daß seine Messung eineRealität widerspiegelt. Paradoxerweise sind diese beiden Aussagen zwar un-

  • 14 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    vereinbar, aber gleichwohl ist es unmöglich, eine andere Antwort zu geben.Ersetzt man die Frage der Objektivität durch die der Objektivierung , dannschafft man sich eine Möglichkeit, diesen Widerspruch anders zu sehen. DieRealität erscheint nun als Produkt einer Reihe von materiellen Aufzeichnungs-operationen – als ein Produkt, das umso realer ist, je umfassender diese Auf-zeichnungen sind, das heißt je dauerhafter die (auf der Grundlage größererInvestitionen getroffenen) Äquivalenzkonventionen sind. Diese Investitionenerlangen aber nur in einer Handlungslogik eine Bedeutung, welche die schein-bar kognitive Logik des Messens umfaßt. Betrachtet man das gemessene Dingin Bezug auf eine derartige Handlungslogik, dann ist dieses Ding real, denndie betreffende Handlung kann sich darauf stützen (was ein gutes Realitäts-kriterium darstellt); gleichzeitig erweist sich das betreffende Ding im Rahmendieser Logik aber auch als konstruiert.

    Zwei Arten der historischen Forschung

    Die unterschiedlichen Verwendungen der Begriffe ”Statistik“ und ”Statistiker“widerspiegeln die Spannung zwischen den Standpunkten in Bezug auf Rea-lität und Methode. Für die einen ist Statistik eine administrative Tätigkeitzur Aufzeichnung von Daten. Diese Daten führen ihrerseits zu unbestreitbarenZahlen, die in der sozialen Debatte aufgegriffen werden und eine Handlung de-terminieren. Für die anderen handelt es sich bei Statistik um einen Zweig derMathematik, der an der Universität gelehrt und von anderen Wissenschaftlernverwendet wird, zum Beispiel von Biologen, Ärzten, Ökonomen und Psycholo-gen. Die Autonomisierung dieser beiden Bedeutungen geht bis an den Anfangdes 20. Jahrhunderts zurück, als die Techniken der Regression und der Korre-lation routinemäßig angewendet und verbreitet wurden – beginnend mit dem

    ”biometrischen Zentrum“ (Biometric and Francis Galton Eugenics Laborato-ries) von Karl Pearson und der inferentiellen Statistik10 (Schätzungen, Tests,Varianzanalyse), die im landwirtschaftlichen Experimentallabor von RonaldFisher entwickelt wurde. Seit dieser Zeit tritt die Statistik als Zweig der an-gewandten Mathematik in Erscheinung.

    Aber sogar noch früher war im Rahmen der Verwaltungsarbeit ein andererBeruf auf dem Weg dazu, Autonomie zu erlangen – der Beruf des Staatsstati-stikers, der für die amtlichen statistischen Bureaus zuständig war und dessenSprecher und Organisator Quetelet vierzig Jahre lang gewesen ist. Bis in die1940er Jahre waren die von diesen Dienststellen angewendeten mathemati-schen Techniken rudimentär und beide Berufe unterschieden sich voneinander.Diese Situation änderte sich in der Folgezeit mit der Anwendung der Stichpro-benverfahren, der Ökonometrie und anderer Techniken, die immer vielfältigerwurden. Aber die Autonomie der unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkei-10 Wir verwenden hier durchgehend den Begriff

    ”inferentielle Statistik“ anstelle von

    ”schließender Statistik“ oder

    ”induktiver Statistik“.

  • Zwei Arten der historischen Forschung 15

    ten blieb bestehen und trug dazu bei, die Spannung zwischen dem administra-tiven und dem wissenschaftlichen Aspekt dieser Berufe aufrecht zu erhalten.Das Ziel der Statistik besteht darin, die Vielfalt der Situationen zu reduzierenund deren zusammenfassende Beschreibung zu liefern – eine Beschreibung,die aufgezeichnet und als Grundlage des Handelns verwendet werden kann.Das impliziert einerseits die Konstruktion eines politischen Äquivalenz- undKodierungsraumes und andererseits eine mathematische Behandlung, die sichhäufig auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung stützt. Aber diese beiden Aspekteder Statistik werden im Allgemeinen als zwei gesonderte Tätigkeiten angese-hen und die Forschungsarbeiten zu deren Geschichte werden ebenfalls getrenntvoneinander durchgeführt.

    Ich habe mich im vorliegenden Buch dazu entschlossen, diese beiden rotenFäden gleichzeitig zu verfolgen, um ihre Wechselwirkungen und Verbindun-gen genau zu untersuchen. Die Vereinigung der beiden Linien erfolgte erstin den 1930er und 1940er Jahren. In meiner Darstellung verwende ich zweiKategorien der historischen Forschung. Die erste Kategorie bezieht sich aufdie statistischen Institutionen und die statistischen Systeme. Abgesehen vonden vom Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE)im Jahre 1987 veröffentlichten zwei Bänden Pour une histoire de la statisti-que sind für Frankreich die wichtigsten Werke diejenigen von J. C. Perrot(1992, [227]) und Bourguet (1988, [27]) über das 18. Jahrhundert und denBeginn des 19. Jahrhunderts, von Armatte (1991, [5]), Brian (1989, [35]) undLécuyer (1982, [173]) über das 19. Jahrhundert sowie von Fourquet (1980,[95]) und Volle (1982, [284]) über das 20. Jahrhundert. In Großbritannienbehandeln die Forschungsarbeiten von Szreter (1984 [270], 1991 [271]) dasGeneral Register Office (GRO) und die Public Health Movement. In den Ver-einigten Staaten beschreiben Anderson (1988, [4]) sowie Duncan und Shelton(1978, [74]) die allmähliche Zunahme der Verwaltungsstatistik und deren an-schließende Transformation in den 1930er Jahren. Diese Transformation führtezu den gegenwärtigen Organisationen, die auf vier bedeutenden Innovationenberuhen: Koordinierung durch Nomenklatur; Stichprobenerhebungen; volks-wirtschaftliche Gesamtrechnung; maschinelle Datenverarbeitung und späterdie Informatik.

    Die zweite Kategorie von Arbeiten bezieht sich auf die Wahrscheinlich-keitsrechnung und die mathematische Statistik. Dieses Gebiet der historischenForschung zeichnete sich in den 1980er Jahren durch eine starke Aktivität aus– zuerst in Frankreich mit dem originellen, aber isolierten Buch von Benzécri(1982, [12]) und dann in England im Anschluß an eine kollektive Arbeit, die1982–1983 in Bielefeld von Forschern mehrerer Länder durchgeführt wurde.Dem Buch The Probabilistic Revolution (Band 1, herausgegeben von Krüger,Daston, Heidelberger, 1987 [158], und Band 2, herausgegeben von Krüger,Gigerenzer, Morgan, 1987 [159]) folgten einige weitere Werke: Stigler (1986,[267]), Porter (1986, [240]), Daston (1988, [54]), Gigerenzer et al. (1989, [107])und Hacking (1990, [119]). Parallel hierzu wurde die Geschichte der Ökono-

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    metrie von Epstein (1987, [85]) und Morgan (1990, [204]) untersucht und ineinem Sammelband der Oxford Economic Papers (1989) herausgegeben.

    Das Aufblühen der Forschungen zur Geschichte der Statistik (Verwaltungs-statistik und mathematische Statistik), der Wahrscheinlichkeitsrechnung undder Ökonometrie ermöglicht eine Gesamtinterpretation aus der Sicht der Wis-senschaftssoziologie. Diese Interpretation ist gleichzeitig historisch und verglei-chend. Dabei betrachte ich vier Länder: Frankreich, Großbritannien, Deutsch-land und die Vereinigten Staaten. Ich habe diese Länder gewählt, weil eineeinschlägige Dokumentation vorhanden ist und weil sich die signifikantestenEreignisse in diesen Ländern abgespielt haben. Die historische Schilderungwird bis zu den 1940er Jahren geführt. Um diese Zeit traten Institutionenund Technologien auf den Plan, deren Charakter dem der heutigen Institutio-nen und Technologien ähnelt. Die Interpretation der seither stattgefundenenEntwicklungen dieser Institutionen und Technologien erfordert historische Un-tersuchungen ganz anderer Art. Statistische Methoden werden jetzt in vielenverschiedenen Bereichen angewendet und sind Bestandteil der unterschied-lichsten wissenschaftlichen, sozialen und politischen Konstrukte. Die neuereGeschichte der statistischen Ämter ist noch kaum untersucht worden, aberin Bezug auf Frankreich wurde entsprechendes Material in Pour une histoirede la statistique (INSEE, 1987, [136]) gesammelt. Mathematische Statistik,Wahrscheinlichkeitsrechnung und Ökonometrie haben sich in so zahlreichenund unterschiedlichen Richtungen entwickelt, daß es schwierig geworden ist,sich eine synthetische Darstellung vorzustellen, die sich mit der von Stiglerfür das 18. und 19. Jahrhundert gegebenen Darstellung vergleichen läßt.

    In diesem Buch verfolgen wir die Entwicklungen der beiden Aspekte derStatistik, das heißt des wissenschaftlichen und des administrativen Aspekts.Wir untersuchen in den Kapiteln einige Zweige des Stammbaums der Stati-stik und der modernen Ökonometrie. Am Anfang von Kapitel 9 findet derLeser eine skizzenhafte Darstellung dieses Stammbaums mit einer Zusam-menfassung der verschiedenen Wege, die wir zurückverfolgt haben. Das ersteKapitel beschreibt die Entstehung der Verwaltungsstatistik in Deutschland,England und Frankreich. Im zweiten Kapitel schildern wir das Auftreten derWahrscheinlichkeitsrechnung im 17. und 18. Jahrhundert, ihre Anwendungauf Meßprobleme in der Astronomie, sowie die Formulierung des Normal-verteilungsgesetzes und der Methode der kleinsten Quadrate. Im dritten undvierten Kapitel geht es hauptsächlich um die Begriffe des Mittelwertes und derKorrelation, wobei wir uns an den Arbeiten von Quetelet, Galton und Pearsonorientieren. Im fünften und sechsten Kapitel analysieren wir die Beziehungenzwischen Statistik und Staat an den Beispielen Frankreichs, Großbritanniens,Deutschlands und der USA. Das siebente Kapitel beschreibt die sozialen Be-dingungen, unter denen die Techniken der Stichprobenerhebung entstandensind.11 Das achte Kapitel behandelt Probleme der Nomenklatur und der Ko-11 Dieses Kapitel greift in geänderter Form einen Text auf, der in einer von Mairesse

    (1988, [184]) herausgegebenen Kollektivarbeit veröffentlicht wurde.

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    dierung, insbesondere ausgehend von den Forschungsarbeiten, die ich zuvormit Laurent Thévenot durchgeführt hatte. Im neunten Kapitel untersuche ichdie Schwierigkeiten der Vereinigung der vier Traditionen, die zur modernenÖkonometrie geführt haben. Diese Traditionen sind: die Wirtschaftstheorie,die historizistisch-deskriptive Statistik12, die aus der Biometrie hervorgegan-gene mathematische Statistik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. In derSchlußfolgerung behandle ich in gedrängter Form die Entwicklung und dierelative Krise der Sprache der Statistik nach 1950.13

    Ein auslösender Faktor dafür, das vorliegende Buches zu schreiben, wardas Interesse für die sozialen Bedingungen der Produktion von Wissen überdie soziale Welt – ein Interesse, das Pierre Bourdieu in seiner Lehrtätigkeitvor langer Zeit in mir erweckt hatte. Sehr viel verdanke ich dem langjährigenMeinungsaustausch mit Statistikern, Demographen und Ökonomen (Joëlle Af-fichard, Michel Armatte, Denis Bayart, Annie Cot, Jean-Jacques Droesbeke,François Eymard-Duvernay, Annie Fouquet, Michel Gollac, François Héran,Jacques Magaud, Maryse Marpsat, Pascal Mazodier, Robert Salais, PhilippeTassi, Michel Volle, Elisabeth Zucker-Rouvillois), aber auch dem Meinungs-austausch mit Historikern und Philosophen (Marie-Noëlle Bourguet, StéphaneCallens, François Ewald, Anne Fagot-Largeault, François Fourquet, BernardLécuyer, Jean-Claude und Michelle Perrot) und den Diskussionen mit eini-gen britischen, deutschen und amerikanischen Spezialisten, die mir wertvolleRatschläge gegeben haben (Margo Anderson, Martin Bulmer, Lorraine Da-ston, Gerd Gigerenzer, Ian Hacking, Donald Mac Kenzie, Mary Morgan, TedPorter, Stephen Stigler, Simon Szreter). Das Buch hat auch vom Seminar zurGeschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik profitiert, das ander École des hautes études en sciences sociales (EHESS) von Marc Barbut,Bernard Bru und Ernest Coumet geleitet wurde. Der Standpunkt der Wis-senschaftssoziologie ist durch die Arbeiten beeinflußt worden, die ich in derGruppe für Politik- und Moralsoziologie (EHESS) zusammen mit Luc Bol-tanski, Nicolas Dodier und Michaël Pollak (gest. 1992) durchgeführt hatte,deren Ideen zum Vorgang der statistischen Formgebung eine ebenso wesent-liche Rolle gespielt haben, wie die Forschungen des Centre de sociologie del’innovation der École des mines (Michel Callon und Bruno Latour). Undschließlich hätte dieses Buch nicht ohne die freundliche Aufnahme und Hilfedes Forschungsseminars des INSEE geschrieben werden können. Die von denMitgliedern des Seminars geäußerten sachdienlichen Kritiken haben sich als12 Wir verwenden hier durchgehend den Begriff

    ”deskriptive Statistik“ anstelle von

    ”beschreibender Statistik“.

    13 Obgleich die beiden Standpunkte, das heißt die internalistische und die externa-listische Sichtweise, in Anbetracht der verfügbaren Quellen möglichst eng mit-einander verknüpft werden, beziehen sich Kapitel 2, 3, 4 und 9 eher auf dieMetamorphosen der kognitiven Schemata, während Kapitel 1, 5, 6 und 7 derSozialgeschichte und der Geschichte der Institutionen näher stehen. Kapitel 8, indem es um Klassifikationen geht, liegt in gewisser Weise an der

    ”Schnittstelle“

    der beiden Sichtweisen.

  • 18 Einleitung: Soziale Tatbestände als Dinge

    sehr wertvoll erwiesen – insbesondere gilt das für die kritischen Bemerkun-gen von Francis Kramarz. Ebenso danke ich Elisabeth Garcia und Dominiqued’Humières für die sorgfältige Arbeit bei der Aufbereitung des Textes für denDruck.

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    Präfekten und Vermessungsingenieure

    Welche Gemeinsamkeiten haben die Statistik – das heißt eine Gesamtheit vonVerwaltungsroutinen, die zur Beschreibung eines Staates und seiner Bevölke-rung erforderlich sind –, die um 1660 von Huygens und Pascal geschaffeneWahrscheinlichkeitsrechnung – eine subtile Entscheidungshilfe in Fällen vonUngewißheit – und die gegen 1750 auf der Grundlage disparater empirischerBeobachtungen durchgeführten Schätzungen physikalischer und astronomi-scher Konstanten? Erst im 19. Jahrhundert, nachdem eine Reihe von Hin- undRückübersetzungen der Werkzeuge und Fragestellungen durchgeführt wordenwaren, kam es zu Überschneidungen und dann zu Verbindungen dieser unter-schiedlichen Traditionen. Die Überschneidungen und Verbindungen entstan-den durch den wechselseitigen Austausch von Techniken der Verwaltung, der(damals als ”Moralwissenschaften“ bezeichneten) Humanwissenschaften undder Naturwissenschaften.

    Die Notwendigkeit, eine Nation zu kennen, um sie zu verwalten, führte –ausgehend von den äußerst unterschiedlichen Sprachen der englischen politi-schen Arithmetik und der deutschen Statistik – zum Aufbau der sogenannten

    ”statistischen Bureaus“ im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.1 Andererseits

    entwickelte sich der Prozeß des Nachdenkens über die Gerechtigkeit und dieRationalität der menschlichen Verhaltensweisen auf der Grundlage der Begrif-fe Erwartung und Wahrscheinlichkeit. Und schließlich führte das Streben nachder Formulierung von Naturgesetzen, bei denen differierende empirische Auf-zeichnungen berücksichtigt werden, zu einer zunehmend präziseren Herausar-beitung des Begriffes Mittelwert und der Methode der kleinsten Quadrate. Inden ersten beiden Kapiteln dieses Buches beschreiben wir diese drei Traditio-nen, die sich – trotz ihrer scheinbaren Heterogenität – mit der Erstellung von1 Diese Verwaltungsdienstellen wurden zunächst mit der Aufgabe betraut, eine

    ”Generalstatistik“ zu erstellen. Für Deutschland wurde 1871 die Errichtung eines

    Statistischen Amtes beschlossen. Der Zuständigkeitsbereich dieses”Kaiserlichen

    Statistischen Amtes“ wurde 1872 festgelegt. Von daher rührt die Benennung die-ser Sparte der administrativen Statistik als

    ”amtliche“ Statistik.