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08.11.2016 PHILIPPE JAROUSSKY FREIBURGER BAROCKORCHESTER PETRA MÜLLEJANS LEITUNG SAISON 2016/2017 ABONNEMENTKONZERT 2

08.11.2016 PHILIPPE JAROUSSKY - ndr.de · Ouvertüre zu: Matthäus-Passion TWV 5:53 (1754) ... setzen wollten, war Brockes’ Libretto ideal, denn der Dichter von „Der für die

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08.11.2016

PHILIPPE JAROUSSKY FREIBURGER BAROCKORCHESTERPETRA MÜLLEJANS LEITUNG

SAISON 2016/2017 ABONNEMENTKONZERT 2

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02 | PROGRAMMABFOLGE

Dienstag, 8. November 2016 | 20 Uhr

Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal

FREIBURGER BAROCKORCHESTERPETRA MÜLLEJANS LEITUNG

PHILIPPE JAROUSSKY COUNTERTENOR

Ouvertüre zu: Matthäus-Passion TWV 5:53 (1754)

Kantate „Der am Ölberg zagende Jesus“ TWV 1:364

(1741)

Ouvertüre zu: „Der für die Sünde der Welt gemarterte

und sterbende Jesus“ („Brockes-Passion“) TWV 5:1

(1716)

Kantate „Jesus liegt in letzten Zügen“ TWV 1:983

(vor 1721)

Pause

GEORG PHILIPP TELEMANN

(1681 – 1767)

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Sinfonia zu: Kantate „Gleich wie der Regen und

Schnee vom Himmel fällt“ BWV 18 (um 1713)

Sinfonia zu: Kantate „Der Herr denket an uns“

BWV 196 (um 1708)

Sinfonia zu: Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“

BWV 21 (um 1714)

Kantate „Ich habe genug“ BWV 82 (1727)

Das Konzert wird auf NDR Kultur gesendet.

Den Sendetermin fi nden Sie unter: ndr.de/dasaltewerk

PROGRAMMABFOLGE | 03

JOHANN SEBASTIAN BACH

(1685 – 1750)

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04 | BESETZUNG

BESETZUNGFREIBURGER BAROCKORCHESTER

LEITUNG Petra Müllejans

ERSTE VIOLINEPetra Müllejans

Martina Graulich

Christa Kittel (Viola bei

BWV 18)

Gerd-Uwe Klein

Hannah Visser

ZWEITE VIOLINEKathrin Tröger

Daniela Helm

Beatrix Hülsemann (Viola

bei BWV 18)

Brigitte Täubl

VIOLA Werner Saller

Christian Goosses

VIOLONCELLOStefan Mühleisen

Guido Larisch

VIOLONEDane Roberts

OBOEAnn-Kathrin Brüggemann

Anke Nevermann

FAGOTTJavier Zafra

LAUTEAndreas Arend

ORGEL/CEMBALOTorsten Johann

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FREIBURGER BAROCKORCHESTER | 05

BESETZUNG

Das Freiburger Barockorchester (FBO) blickt auf

eine knapp 30-jährige musikalische Erfolgsge-

schichte zurück: Aus studentischen Anfängen im

Jahr 1987 entstand innerhalb weniger Jahre ein

international gefragter Klangkörper, der inzwi-

schen regelmäßig in den bedeutendsten Konzert-

und Opernhäusern gastiert. Neben der Vielfalt

des Repertoires vom Frühbarock bis in die Ge-

genwart wird vor allem die besondere Klangkul-

tur des auf historischen Instrumenten spielenden

FBO gerühmt. Seit Mai 2012 verfügt das Orches-

ter gemeinsam mit den Kollegen vom ensemble

recherche über ein international einzigartiges

Domizil: das Ensemblehaus Freiburg, eine musi-

kalische Werkstatt und Ideenschmiede für zwei

Spitzenensembles der älteren und neuen Musik

unter einem Dach.

Das FBO arbeitet mit bedeutenden Künstlern

wie René Jacobs, Andreas Staier, Jean-Guihen

Queyras, Isabelle Faust, Kristian Bezuidenhout,

Christian Gerhaher und Pablo Heras-Casado

zusammen und ist in einer engen Kooperation

mit dem Label harmonia mundi verbunden.

Den künstlerischen Erfolg dieser musikalischen

Partnerschaften dokumentieren zahlreiche

CD-Produktionen und die Verleihung renom-

mierter Auszeichnungen wie zuletzt der ECHO

Klassik Deutscher Musikpreis 2016.

Unter der künstlerischen Leitung seiner beiden

Konzertmeister Gottfried von der Goltz und Petra

Müllejans sowie unter der Stabführung ausge-

wählter Dirigenten präsentiert sich das FBO mit

rund einhundert Auftritten pro Jahr in unter-

schiedlichen Besetzungen vom Kammer- bis zum

Opernorchester. Das FBO ist ein selbstverwal-

tetes Ensemble mit eigenen Konzertreihen im

Freiburger Konzerthaus, in der Stuttgarter Lie-

derhalle und der Berliner Philharmonie und mit

Tourneen in der ganzen Welt.

FREIBURGER BAROCKORCHESTER

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Die Geigerin Petra Müllejans ist eine vielseitige

Musikerin, die nahezu jede Art von Musik liebt

und mit Leidenschaft spielt. Am liebsten tut sie

dies in einem vertrauten Umfeld mit ihr auch

persönlich nahestehenden, musikalischen Part-

nern. Seit vielen Jahren ist sie Mitglied und

Gesellschafterin im Freiburger Barockorchester

(FBO), das sie als Konzertmeisterin leitet und

mit dem sie auch als Solistin regelmäßig auftritt.

Außerdem gehört sie zum festen Stamm des

Freiburger BarockConsort, der Kammermusik-

formation des FBO, die sich auf solistisch besetz-

te Musik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts

spezialisiert hat.

Petra Müllejans’ Zugang zur Musik des Barock

und der Klassik ist geprägt von der ständigen

Suche nach einer erzählenden Musizierweise,

die sich für sie am besten in der von ihr geliebten

Arbeit im Orchester, der Zusammenarbeit mit

Hille Perl und Lee Santana im Ensemble The age

of passions und mit ihrer Klezmergruppe Hot

and Cool realisieren lässt. Sie ist eine leiden-

schaftliche Lehrerin, der die Arbeit mit ihren

Studenten am Herzen liegt.

Petra Müllejans ist Professorin für Barockvioline

an der Hochschule für Musik und Darstellende

Kunst in Frankfurt am Main.

PETRA MÜLLEJANSLEITUNG

06 | LEITUNG

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SOLIST | 07

Philippe Jaroussky ist in der Konzertsaison

2016/2017 Artist in Residence beim NDR. Im

Januar 2017 wird er zusammen mit Sängern

wie Anja Harteros und Jonas Kaufmann die Elb-

philharmonie eröffnen. Jaroussky wurde 1978

in Maisons-Laffitte geboren, er studierte Violine,

Klavier und Komposition an den renommierten

französischen Musikakademien von Versailles

und Boulogne. Sein Gesangsstudium begann er

1996 bei Nicole Fallien, daran schlossen sich

Studien in Alter Musik bei Michel Laplenie und

Kenneth Weiss an der Pariser Ecole de Musique

National-Régional an.

Jarousskys Repertoire hat eine außergewöhn-

liche Spannbreite: vom Schwerpunkt Barock mit

Oper und geistlicher Musik über französische

Lieder bis hin zur zeitgenössischen Oper. Er tritt

auf mit renommierten Alte-Musik-Ensembles

wie: Freiburger Barockorchester, Les Arts Floris-

sants, Les Musiciens du Louvre, Le Concert

d’Astrée, L’Arpeggiata, Le Cercle de l’Harmonie,

Ensemble Matheus und Europa Galante unter

Dirigenten wie Fabio Biondi, William Christie,

Emmanuelle Haïm, René Jacobs, Jean-Claude

Malgoire, Marc Minkowski, Christina Pluhar und

Jean-Christophe Spinosi. 2002 gründete er sein

Ensemble Artaserse.

Mehrfach wurde Jaroussky mit dem ECHO Klassik

ausgezeichnet: u. a. 2005 als bester Nachwuchs-

künstler, 2008 als Sänger des Jahres – als erster

und bisher einziger Countertenor in der Geschich-

te dieses Preises. 2016 wurde er erneut zum

Sänger des Jahres gekürt. 2010 bekam Philippe

Jaroussky seinen bereits vierten Victoire de la

Musique als Sänger des Jahres. Zu den weiteren

Auszeichnungen gehören der Preis der deut-

schen Schallplattenkritik, der Diapason d’Or, der

Choc du Monde de la Musique, der Gramophone

Award, der Midem Classical Award, der Händel-

Preis der Stadt Halle sowie der BBC Music Vocal

Award.

Im deutschsprachigen Raum hat sich Philippe

Jaroussky längst etabliert. So war er in der

Saison 2015/16 Artist in Residence im Konzert-

haus Berlin. Im Dezember 2015 fanden die

Aufnahmen für sein neuestes Album statt, auf

dem er erstmals deutsches Repertoire singt:

Kantaten von Bach und Telemann. Das Album

erschien im Herbst 2016.

PHILIPPE JAROUSSKYCOUNTERTENOR

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Es ist ein einfacher Satz über etwas scheinbar

Selbstverständliches, und doch lässt er auf-

horchen: „Ich finde die Verbindung von Bach und

Telemann spannend, gerade weil die beiden

Komponisten sehr unterschiedlich sind.“ Dies

gab Philippe Jaroussky, in der Saison 2016/2017

Residenzkünstler beim NDR, über das Programm

des heutigen Abends zu Protokoll. Warum sollte

man Bach und Telemann, diese beiden gut

miteinander vertrauten Kollegen, auch nicht

nebeneinanderstellen und deren Musik, jede auf

ihre Art, gleichermaßen wertschätzen. Heute

muss man darüber nicht mehr diskutieren. Doch

die Geschichte der Werturteile über diese bei-

den Komponisten könnte widerspruchsvoller

nicht sein. Zu ihren Lebzeiten war Telemann eine

europäische Größe, sein Ruhm überstrahlte

den seines Kollegen Bach bei weitem. Im

19. Jahrhundert kehrte sich das Verhältnis dann

um, nun wurde der große Thomaskantor auf

den Sockel gehoben, Telemann wertete man

als oberflächlichen Schnellschreiber ab. Diese

Sicht der Dinge wirkte in Deutschland bis

weit ins 20. Jahrhundert nach. „Sie sagen Bach,

meinen Telemann und sind heimlich einen

Sinns mit jeder Regression des musikalischen

Bewusstseins.“ So urteilte Theodor W. Adorno

über Musikliebhaber, die nicht in der Lage seien,

wahrhaft große von allzu gefälliger Kunst zu

unterscheiden.

DAS ROMANTISCHE BACHBILDEiner der Väter des romantischen Bach-Bildes

war der Bach-Biograf Philipp Spitta. Seine

zweibändige Biografie „Johann Sebastian Bach“

(1. Band 1873, 2. Band 1880) prägte über

Generationen das Bild, das Musikliebhaber sich

von „ihrem“ Bach machten. Wenige Jahre nach

der Reichsgründung war Spitta als Professor

an die Königliche akademische Hochschule für

Musik nach Berlin berufen worden. Und der

Musikforscher erfüllte, wofür man ihn auf den

Lehrstuhl in der Hauptstadt geholt hatte:

Er gab den Deutschen in Gestalt von Bach ein

nationales Denkmal. Ernst, tiefsinnig und pro-

testantisch-fromm dachte Spitta sich seinen

Helden, der „in stiller, gesammelter Thätigkeit

seinen reinen Idealen nachtrachtete“, während

„draußen in der Welt die trüben Fluthen eines

gedankenlosen Kunsttreibens höher und höher“

schlugen. Spitta stilisierte Bach zu dem großen

Kirchenkomponisten, der seine eigentliche

Berufung erst in seiner letzten Lebensphase als

Leipziger Thomaskantor gefunden habe. Das

Bild von Bach als „fünftem Evangelisten“ ist

das Werk seines Hagiografen. Telemann diente

Spitta als negative Folie, je heller sein Bach

strahlte, umso dunkler zeichnete er dessen

vermeintlichen Widerpart. Der eine habe sich

in den „keuschen Fluthen“ seiner Orgelmusik

verströmt, der andere die Kirchenmusik „von

ihrer übelsten Seite“ gezeigt. Wo Bachs Musik

„mild und innig“ sei, da seien Telemanns Klänge

„unbeschreiblich schal und flach“. Für Spitta –

und für die meisten seiner damaligen Leser –

galt: „Der Unterschied ist so groß, wie die

Charaktere der beiden Künstler verschieden.“

Als Beispiele für den Direktvergleich zwischen

Bach und Telemann wählte Spitta vor allem

geistliche Kantaten. Beide Komponisten hatten

Texte des Dichter-Theologen Erdmann Neu-

meister vertont, anhand der Umsetzung dersel-

ben Textvorlagen wollte Spitta den Abstand

08 | PROGRAMM

BACH VERSUS TELEMANN?MUSIKANSCHAUUNGEN UND WERTURTEILE IM WANDEL

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PROGRAMM | 09

zwischen Genie und Durchschnitt aufzeigen.

Doch hören wir nicht immer bloß das, was wir zu

wissen meinen? So schwärmte Spitta ausführ-

lich über Bachs Kantate BWV 160 „Ich weiß, daß

mein Erlöser lebt“. Ein „Kleinod an ergreifender

Declamation“ hörte der Bach-Papst hier, „über-

raschende Wahrheit“ und „wahres Aufblühen“

habe der „tiefsinnige Meister“ ins Werk gesetzt.

Das alles ist wahr, dem ist kaum etwas hin-

zuzufügen. Nur das Eine: Die Kantate BWV 160

stammt, wie wir heute wissen, gar nicht von

Bach, das war eine Fehlzuschreibung. Tatsäch-

lich ist ihr Autor Georg Philipp Telemann.

TELEMANN DER KIRCHENMUSIKERAnders als Bach, für den die Konzertmeister-

und Kapellmeisterposten an den Höfen von

Weimar und Köthen wichtige Karriereschritte

darstellten, war Telemann den größten Teil

seines langen Berufslebens als Musikdirektor

und Kirchenmusiker angestellt. Ab 1712 in

Frankfurt, dann 46 Jahre lang bis zu seinem Tod

1767 als „Director musices“ in Hamburg, wo er

für die Musik an den fünf Hauptkirchen zustän-

dig war. In 55 Dienstjahren – die frühen Leipziger

Jahre gar nicht mitgerechnet – mit 2860 Sonn-

tagen kam so eine stolze Zahl von Kantaten für

den Gottesdienst zusammen, überliefert sind

davon rund 1400. Entsprechend schilderte Tele-

mann sich selbst in seiner autobiografischen

Notiz von 1718 vor allem als Kirchenmusiker:

„Dieses aber weiß wol, daß ich allemahl die

Kirchen-Music am meisten werth geschätzt, am

meisten in anderen Autoribus ihrentwegen

geforscht, und auch das meiste darinnen aus-

gearbeitet habe.“

Wir sehr Johann Sebastian Bach unsere Vorstel-

lung von protestantischer Kirchenmusik

beherrscht, erkennt man daran, dass beim

Stichwort „Matthäuspassion“ unweigerlich jeder

zuerst an Bach denkt. Dabei liegt Telemann auch

bei der Pas sionsproduktion nach Stückzahlen

klar vorne. In Hamburg komponierte er im jährli-

chen Wechsel einen der vier biblischen Passi-

onsberichte; macht 46 Passionen, für jedes

Dienstjahr eine, rund ein Viertel davon sind Mat-

thäuspassionen. (Klingt dieses Wort im Plural

nicht seltsam falsch? Gibt es in Wahrheit nicht

nur die eine?) Hinzu kamen so genannte Passi-

onsoratorien, denen statt des liturgischen Tex-

tes das Libretto eines Dichters zugrunde lag.

Das bekannteste dieser Passionsdramen ist die

„Brockes-Passion“ nach Worten des Hamburger

Ratsherren Barthold Heinrich Brockes. Für Kom-

ponisten, die kräftige, theatralische Akzente

setzen wollten, war Brockes’ Libretto ideal, denn

der Dichter von „Der für die Sünde der Welt

Philipp Spitta (1841 – 1894)

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10 | PROGRAMM

gemarterte und sterbende Jesus“ liebte es

drastisch und anschaulich. Neben Telemann

vertonten auch Händel, Keiser, Mattheson, Fasch

und Stölzl im kollegialen Wettstreit diesen

Passionsbestseller.

Eine Grundfrage der Kirchenmusik des 18. Jahr-

hunderts war ihr Verhältnis zur weltlichen Musik,

vor allem zur Oper. Dem Thomaskantor Bach

schrieben seine lutherisch-orthodoxen Dienst-

herrn noch ausdrücklich in seinen Vertrag, dass

er ja nicht zu opernhaft komponieren dürfe.

Doch die starken Tendenzen der Zeit wiesen in

eine andere Richtung. Erdmann Neumeister,

dessen Texte Bach und Telemann gleichermaßen

schätzten, erklärte im Vorwort seiner Sammlung

„Geistliche Cantaten statt einer Kirchenmusic“

unumwunden, eine Kantate sehe „nicht anders

aus, als ein Stück aus einer Oper, vom Stylo

Reci tativo und Arien zusammengesetzt“. Auch

alle Werke des heutigen Abends folgen diesem

Modell. So bezeichnet der Telemannforscher

Eric F. Fiedler Telemanns Kantaten denn auch

als „Kantaten-Theater“. Ein besonderer Reiz

dieser Werke liegt in der Vorstellung, dass der

Komponist, der mit einer guten Baritonstimme

gesegnet gewesen sein soll, viele dieser Kanta-

ten womöglich selbst gesungen hat. Eine Passi-

onskantate wie „Jesus liegt in letzten Zügen“,

deren Text so emphatisch aus der Ich-Perspekti-

ve erzählt, erhielte so fast den Charakter eines

persönlichen Bekenntnisses. Dafür spräche

auch die emotionale Intensität dieser, vermut-

lich noch in Telemanns Frankfurter Jahren zwi-

schen 1712 und 1721 entstandenen Musik. – Ob

dabei nun Telemanns persönliche Frömmigkeit

oder seine Lust am Theatralischen mehr zum

Ausdruck kommt, sei dahingestellt. Wenn

man denn überhaupt so puritanisch sein will,

das eine vom anderen streng zu trennen.

In Hamburg allerdings trennte man seinerzeit

sehr wohl, hier wachte das Geistliche Ministeri-

um scharf über die musikalischen Sitten an den

Hauptkirchen. (Im Rempter des Domes und in

öffentlichen Konzertsälen allerdings galten

weniger rigide Regeln.) Streit um den guten Ton

in der Kirchenmusik zieht sich wie ein roter

Faden auch durch Telemanns Amtszeit. Vielleicht

liegt es ja daran, dass seine 1741 in Hamburg

komponierte Passionskantate „Die stille Nacht

umschloss den Kreis der Erden“ im Ton so viel

schlichter, fast liedhaft, ausfiel als das frühere

Werk. Statt eines emphatischen, sängerisch-vir-

tuosen Freuden-Bekenntnisses steht hier am

Ende eine Mahnung an die „verstockten Sünder“.

Georg Philipp Telemann, Aquatinta

nach einem verschollenen Gemälde von

Ludwig Michael Schneider, um 1750

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PROGRAMM | 11

BACH REVISITEDWenn sich heute niemand mehr daran stört,

dass Bach und Telemann einander auf Augen-

höhe gegenübergestellt werden, zeigt das auch,

wie sehr sich unser Denken, Fühlen und Hören

verändert haben. Engagierte Musiker und kriti-

sche Forscher haben dies bewirkt. Für

Telemann brach u. a. Reinhard Goebel mit seiner

Musica Antiqua Köln eine Lanze. Noch Anfang

der 1980er-Jahre gab Goebel zu Protokoll: „Die

Leute sagen: Telemann ist auch schön, doch

lieber ist uns ein reines Bach-Programm.“ Zahl-

reiche Wiederentdeckungen und eine neue,

vitalere Art des Musizierens haben seither die

Dinge in Bewegung gebracht. Während das Bild

vom oberflächlichen Vielschreiber Telemann

langsam, aber sicher revidiert – oder differen-

ziert – wurde, veränderte sich parallel dazu auch

das Bild des „großen Thomaskantors“. In der

Bach-Forschung hatte es schon 1962 einen

veritablen „Erdrutsch“ gegeben. Damals rüttelte

der Musikforscher Friedrich Blume am Bild vom

„Spielmann Gottes“. Anstelle von Spittas über-

lebensgroßem Evangelisten Bach entwarf Blume

das Bild eines lebensvollen Menschen und

Musikers Bach. An der Wertschätzung für Bachs

Werk änderte das nichts, aber der Ton wurde

ein anderer, auch in der Musik. Wie Bach klingen

kann, definierten bald Nikolaus Harnoncourts

Concentus Musicus Wien, die Schola Cantorum

Basiliensis oder die Musica antiqua Köln – das

romantische Klangideal eines Karl Richter wurde

zu einem Stück Interpretationsgeschichte.

Zu dem neuen Bach-Bild, das sich seit den

1960er-Jahren abzeichnete, trug auch die Neu-

datierung seiner Vokalwerke bei. Spitta hatte

noch angenommen, dass sein „großer Thomas-

kantor“ den überwiegenden Teil seines geist-

lichen Werkes nach 1723 im Kirchendienst in

Leipzig komponiert habe. Nun wurde klar,

dass viele Kantaten aus Bachs früheren Jahren

stammten. Offenbar hatte Bach lediglich in

seinen ersten Leipziger Jahren viel und regel-

mäßig für die Kirche komponiert. Ein unermüd-

licher Erzkantor, der über Jahrzehnte hinweg

seine Gemeinde allsonntäglich mit neuer Musik

versorgte, war Bach – anders als Telemann –

wohl nie. Drei Sinfonien zu Kantaten, die Bach

während seiner Zeit als Hoforganist, Kammer-

musiker und Konzertmeister in Weimar schrieb,

spielt das Freiburger Barockorchester nun zum

Auftakt der zweiten Konzerthälfte.

Eine Grundfeste unseres Bach-Bildes, an der

noch keine Neubewertung rütteln konnte, ist

die Matthäuspassion. Seit ihrer Wiedererwe-

Johann Sebastian Bach, Gemälde von

Johann Jakob Ihle, um 1720

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12 | PROGRAMM

ckung 1829 durch Felix Mendelssohn ent-

wickelte sie sich zum Herzstück unserer Musik-

und Gefühlskultur. Dass die Kantate „Ich habe

genug“ BWV 82 heute zu den beliebtesten der

rund 200 erhaltenen Bach-Kantaten zählt, mag

auch mit ihrer Nähe zu dieser Passion zu tun

haben. Die Kantate entstand 1727, im Jahr der

Uraufführung der Matthäuspassion. Wichtiger

als die zeitliche Nähe aber ist der Tonfall der

Musik. Schon die erste Arie „Ich habe genug“

zeigt wichtige Eigenheiten von Bachs Kunst.

Selbst dort, wo die Melodie für sich genommen

eine ganze Welt des Ausdrucks umfasst, bettet

Bach sie noch in einen Strom von Gegenstim-

men und ein eng verflochtenes Wechselspiel

von Solo-Instrument und Stimme ein. Das simp-

le Modell von Melodie und Begleitung, das

viele seiner galanten Zeitgenossen bevorzugten,

genügte Bach nur selten. Es ist dieser Über-

schuss an technischer Komplexität und Aus-

druck, der die Musik des „alten“ Bach für seine

Zeitgenossen so schwer genießbar, für spätere

Generationen dagegen so vorbildhaft machte.

Ähnlich verhält es sich mit dem letzten Satz,

der Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“. Hier

wird durch eine Koloratur auf das Wort „freue“

das wichtigste Wort des Textes und dessen

zen trale Botschaft herausgehoben. Dem Namen

nach handelt es sich zwar um eine Arie. Würde

man aber den Solo-Part von einem Instrument

ausführen lassen, hätte man der Sache nach

einen veritablen Konzertsatz, der als Finale in

jedem Concerto stehen könnte.

Doch jenseits aller technischen Komplexität ist

es vor allem ihre seelisch-emotionale Dimen-

sion, die Bachs Musik für ihre Bewunderer so

bedeutsam macht. In der Matthäuspassion prägt

neben Leid und Schmerz ein Gefühl von Zärtlich-

keit Text und Musik. Das lyrische Ich und „sein“

Jesus befinden sich in einem vertrauten, intimen

Zwiegespräch, dessen Tonfall sich aus der

Liebeslyrik des Hoheliedes herleitet. So ist die

Arie „Ich will mein Herz dir schenken“ nicht

von ungefähr ein Hochzeitsklassiker geworden.

In der Kantate „Ich habe genug“ ist es der

greise Simeon, der – stellvertretend für alle

Christen – dem Tod gefasst und friedvoll ins

Auge blicken kann, nachdem er den Erlöser

gesehen hat. Diesen Frieden macht Bach in Aria

Nr. 3 „Schlummert ein, ihr matten Augen“ in

den Klängen eines sanft wiegenden Schlafliedes

hörbar. Bach vertonte also nicht nur Texte, er

fand klangliche Symbole, deren Gültigkeit sich,

manchem Wandel der Werturteile und Musik-

anschauungen zum Trotz, bis heute immer aufs

Neue erwiesen hat.

Ilja Stephan

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TEXTE | 13

TEXTE

GEORG PHILIPP TELEMANNDER AM ÖLBERG ZAGENDE JESUS

1. Accompagnato

Die stille Nacht umschloss den Kreis der Erden,

die Nacht, die sonst der Müden Labsal ist,

wenn sie die täglichen Beschwerden

durch angenehme Ruh versüßt.

Jedoch, o schreckenvolle Nacht,

die meinen Geist vor Angst verschmachten lässt.

Denn Jesus, als das Abendmahl vollbracht,

nimmt seinen Weg zum Hof Gethsemane,

da überfällt ihn solch ein Weh,

voll Zittern, Angst und Zagen,

dass er vor Schmerzen kaum so viel kann sagen:

2. Arie

Ich bin betrübt bis in den Tod.

Meine Seele will verzagen,

die Gebeine sind zerschlagen,

mich umringet Höllennot.

3. Rezitativ

Er rung die heilgen Hände

aus überhäuftem Schmerz.

Die Augen schlug er himmelwärts,

und dass der Vater ihm nur etwas Labsal sende.

So hob er seine Stirn empor,

und bracht ihm dies Gebet mit heißem Seufzer vor.

4. Arie

Mein Vater! Wenn dirs wohlgefällt,

so lass den Kelch itzt von mir gehen.

Mein Schmerz ist unerträglich groß,

drum reiß mich von demselben los;

jedoch dir sei es heimgestellt.

Dein Wille soll allein geschehen.

5. Rezitativ

Allein, die Angst nahm jeden Nu mit Haufen zu,

bis er zuletzt gar mit dem Tode rang,

und durch der Marter heiße Glut

das klare Blut aus dem hochteuren Leibe drang.

6. Arie

Kommet her, ihr Menschenkinder,

kommet her, verstockte Sünder,

seht, was Jesus für euch tut.

Ach ich stelle mich mit ein,

und will gern der Größte sein.

Doch, da mich die Schulden reuen,

muss mich auch dein Schmerz befreien

von der heißen Höllenglut.

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14 | TEXTE

JESUS LIEGT IN LETZTEN ZÜGEN

1. Arie

Jesus liegt in letzten Zügen;

ach, er schließt die Augen schon.

Warum bricht der bittre Schmerz

doch nicht auch mein mattes Herz?

Da ich Gottes eignen Sohn

seh erblasset vor mir liegen.

2. Rezitativ

Erbarmenswürdiger Blick!

Die Unschuld wird erwürget von den Sündern.

Der Schönste von den Menschenkindern

ist ganz verstellt und ungestalt.

Die unumschränkete Gewalt,

für welcher auch die Himmel zittern müssen,

liegt kraftlos da zu meinen Füßen.

Der aller Welt das Leben gab,

sinkt selbst ins Grab

und lässet mich betrübnisvoll zurück.

Erbarmenswürdiger Blick!

3. Arie

Mein liebster Heiland, könnt ich doch mit dir

erblassen.

Mit was für sehnlicher Begier

legt ich mich heute noch zu dir

und möchte dich ganz inniglich umfassen.

4. Rezitativ

Jedoch, da dir’s gefällt,

dass ich noch auf der Welt

den Kreuzkelch trinken muss,

so sei dein Wollen auch mein Schluss.

Indessen glaub ich, dass dein Tod

dereinst in meiner Sterbensnot

mir wird zum Trost erscheinen,

da du, mein Lebensfürst,

mich zu den Deinen

ins ew’ge Leben führen wirst.

5. Arie

Darauf freuet sich mein Geist,

dass er dich einmal dort oben

wird mit frohem Jauchzen loben,

wo man dich ohn Ende preist.

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TEXTE | 15

JOHANN SEBASTIAN BACHICH HABE GENUG

1. Aria

Ich habe genug,

Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen,

Auf meine begierigen Arme genommen;

Ich habe genug!

Ich hab ihn erblickt,

Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt;

Nun wünsch ich, noch heute mit Freuden

Von hinnen zu scheiden.

2. Recitativo

Ich habe genug.

Mein Trost ist nur allein,

Dass Jesus mein und ich sein eigen möchte sein.

Im Glauben halt ich ihn,

Da seh ich auch mit Simeon

Die Freude jenes Lebens schon.

Lasst uns mit diesem Manne ziehn!

Ach! möchte mich von meines Leibes Ketten

Der Herr erretten;

Ach! wäre doch mein Abschied hier,

Mit Freuden sagt ich, Welt, zu dir:

Ich habe genug.

3. Aria

Schlummert ein, ihr matten Augen,

Fallet sanft und selig zu!

Welt, ich bleibe nicht mehr hier,

Hab ich doch kein Teil an dir,

Das der Seele könnte taugen.

Hier muss ich das Elend bauen,

Aber dort, dort werd ich schauen

Süßen Friede, stille Ruh.

4. Recitativo

Mein Gott! wenn kömmt das schöne: Nun!

Da ich im Friede fahren werde

Und in dem Sande kühler Erde

Und dort bei dir im Schoße ruhn?

Der Abschied ist gemacht,

Welt, gute Nacht!

5. Aria

Ich freue mich auf meinen Tod,

Ach, hätt er sich schon eingefunden.

Da entkomm ich aller Not,

Die mich noch auf der Welt gebunden.

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GEORG PHILIPP TELEMANN ZUM 250. TODESJAHR Das Festivalprogramm wird im März 2017 bekannt gegeben

(ndr.de/telemann-festival).

Ein Festival von NDR Das Alte Werk in Kooperation

mit Elbphilharmonie Hamburg.

Unterstützt von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

und der Kulturbehörde Hamburg.

TELEMANN-FESTIVAL HAMBURG, 23. BIS 25. JUNI UND 24. NOVEMBER BIS 3. DEZEMBER 2017

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VORSCHAU | 17

NDR DAS ALTE WERK

Abo-Konzert 3

Montag, 5. Dezember 2016 | 20 Uhr

Hamburg, Laeiszhalle

Kammerorchester Basel

Stefano Barneschi Violine und Leitung

Nuria Rial Sopran

Roberta Invernizzi Sopran

Terry Wey Countertenor

Martin Vanberg Tenor

NICOLA PORPORA

„Il Verbo in carne“ –

Oratorio per la nascita di Gesù Cristo

Weihnachtsoratorium für 2 Soprane, Alt, Tenor,

Chor und Orchester (Neapel 1747)

19 Uhr: Einführungsveranstaltung im Kleinen Saal

NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER

C1 Donnerstag, 24. November 2016 | 20 Uhr

D2 Freitag, 25. November 2016 | 20 Uhr

Hamburg, Laeiszhalle

Marc Minkowski Dirigent

Florian Sempey Bariton

MAURICE RAVEL

Suite aus „Ma mère l’oye“

ERNEST CHAUSSON

Poème de l’amour et de la mer op. 19

CÉSAR FRANCK

Sinfonie d-Moll

Einführungsveranstaltungen jeweils um 19 Uhr im Großen Saal25.11.: „Alles klar!“ – Einführungsveranstaltung für und von Kindern um 20 Uhr

KONZERTVORSCHAU

Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. (040) 44 192 192, online unter ndrticketshop.de

Nuria Rial Marc Minkowski

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IMPRESSUM

Herausgegeben vom

NORDDEUTSCHEN RUNDFUNKProgrammdirektion Hörfunk

Bereich Orchester, Chor und Konzerte

Leitung: Andrea Zietzschmann

NDR Das Alte Werk

Redaktion: Angela Piront

Redaktionsassistenz: Janina Hannig

Redaktion des Programmheftes:

Dr. Ilja Stephan

Der Text von Dr. Ilja Stephan ist ein

Originalbeitrag für den NDR.

Fotos: Simon Fowler (Titel; S. 7); Annelies van

der Veg (S. 5, S. 6); AKG-Images (S. 9, S. 11);

AKG-Images / Fototeca Gilardi (S. 10); Merce Rial

(S. 17 links); Marco Borggreve (S. 17 rechts)

NDR | Markendesign

Gestaltung: Klasse 3b; Druck: Nehr & Co. GmbH

Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.

NDR Das Alte Werk im Internet:

ndr.de/dasaltewerk | [email protected]

Nachdruck, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des NDR gestattet.

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